Herrgott nochmal, oder: WTF, Digga!
Ein Rant gegen die deutsche Qualitätspresse in Zeiten von Corona
— Folgeartikel 2 hier, 3 bis 8 hier. Fortsetzung dieses Artikel hier. —
Die aus dieser Artikelserie entstandene Vorbereitung einer Verfassungsbeschwerde ist hier zu finden.
Zur Einordnung vorweg: ich bin ein langweiliger (sagt meine Tocher) Familienvater aus Hamburg, und wundere mich, in welchen Schubladen ich gesteckt werde: vor einiger Zeit war ich noch Teil der linksgrün-versifften Bildungs-Bourgeoisie, aktuell gehöre ich zu meinem Erstaunen und gegen meinen Willen anscheinend zu den Reichsbürgern, Impfgegnern, der AFD, der FDP und den Verschwörungstheoretikern.
Eigene Einschätzung: #Team Püschel #Team Streeck
— Hinweis: Links sind hier nur unterstrichen, nicht zusätzlich farbig —
Liebe ehrwürdige, traditionsreiche Zeitungen und Magazine Frankfurter Allgemeine, Spiegel, Süddeutsche Zeitung, Welt, Zeit und so,
sach ma, seid Ihr von allen guten Geistern verlassen?
Wollt Ihr Euch abschaffen? Beziehungsweise: überflüssig machen, verdunsten, so daß Euer Verschwinden nicht mal bemerkt werden wird?
Ich war Abonnent von einigen von Euch, seit den Zeiten der Digitalisierung auch aus solidarischem Verantwortungsgefühl für eine gute Presselandschaft.
Mittlerweile seid Ihr in vorauseilendem Gehorsam zu rückgratlosen Mitteilungspostillen der Exekutive geworden. (Auf manchen Themenseiten findet sich hin und wieder noch Journalismus — aber das reicht doch nicht.) Ich bin erschüttert, also so richtig, zutiefst, ernsthaft!
Das die Regierung keinen besonders guten oder ausgereiften Plan für die Corona-Krise hat, wundert nicht, aber wie ihr in Selbstbeseitigungswonne hinterher rennt ist unfassbar.
Ich sage das in dem großen Zwiespalt um das Wissen, daß Deutschland aus Sicht des Auslands eine der besten Reaktionen auf die Krise weltweit hingelegt hat. Ja, es könnte alles noch schlimmer sein!
Ein paar Gründe für meinen Ärger
Das Rumgeeiere mit der R-Zahl
Die Reproduktionszahl R gilt als ein Frühindikator, eine Art Fieberthermometer für Pandemie-Entwicklung. Es ist völlig klar, daß jeder (einigermaßen dauerhafte) Wert der R-Zahl > 1,0 mit einer Exponential-Kurve der Infektionen einhergeht. D.h. die 1 ist als wichtig anzusehen!
Die Entwicklung der R-Zahl nach der Spitze am Anfang der Krise (in Deutschland Anfang März) bis heute ist mindestens als erfreulich anzusehen. Trotzdem Angst überall!
Im Zuge der Lockerungen muss mit einem leichten Ansteigen der Zahl gerechnet werden. Hierüber haben sich die Veranwortlichen sicher vorher Gedanken gemacht. Oder nicht?
Aber es ist Humbug was Herr Söder (oben nur zwei Beispiele von ihm) zu der Entwicklung der Zahl sagt, und es ist ein Trauerspiel zu verfolgen zu welchen sensationsheischenden Überschriften (mit manchmal nahezu gegenteiligem Inhalt) dies von Euch verarbeitet wird. Für mich ist das ’Clickbait’.
Auch die Mitteilungen des Robert-Koch-Institut von Anfang Mai werden reichweiten-erhöhend in Schlagzeilen verwurstet, die nicht sachdienlich sind.
UPDATE vom 05. Juni 2020:
Nun sind ein paar Wochen vergangen und die Zahl R steigt nicht nur nicht wieder, das sichtbare Zittern in der Grafik oben wird nun deutlich als regelmäßige wöchentliche Schwankung erkennbar, wie - in diesem Artikel hier - anschaulich dargestellt wird:
Hieraus ergibt sich eben keine höhere Gefahr, und keine alarmierenden Zahlen, wie überall zu höhren und zu sehen war und ist, sondern die Dynamik des Infektionsgeschehens ist seit kurz nach Mitte März unverändert!
Und dies wird eben in den Nachrichten nach wie vor anders dargestellt. [ENDE UPDATE]
Die Verbiegung des Begriffs Zweite Welle
Die ‘zweite Welle’ ist aus der Geschichtsschreibung über die ‘Spanische Grippe’ seit langem bekannt. Gemeint ist mit dem Begriff ein Wiederauf-flammen der Infektionen aufgrund klimatischer oder anderer äußerer Faktoren, die dies begünstigen, nach mehreren Monaten bis einem Jahr.
Im Laufe des März tauchte der Begriff in den Medien auf und verbreitete sich im Sinne von, da hinten kommt noch was oder da kann noch was kommen. Zeitrahmen nun: Monate.
Dann plötzlich wurde der Begriff Anfang April umgedeutet (z.B. hier am Beispiel Singapur in der SZ.de, was aber so gar nicht stimmt), und mit dem stark verkürzten Zeitrahmen von Wochen versehen.
Seit dem ist es beliebt geworden, am liebsten tagesaktuell auch bei statistisch insignifikanten Schwankungen der R-Zahl (siehe oben) für Mitte nächster Woche die Zweite Welle anzudrohen. Und das wird dann von Euch ohne Korrekturlesung an die Leser weitergereicht. Mann, mann, mann!
UPDATE vom 05. Juni 2020:
Der Spiegel zeigt sich schon zwei Wochen später irritiert über das Ausbleiben der vielfach angekündigten zweiten Welle:
Es wird unter dem Titel die Erklärung der “verantwortlichen Effekte” für die niedrigen Fallzahlen angekündigt. Im Text sind aber nur drei Belanglosigkeiten zu finden:
„Die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes wird überwiegend eingehalten. […] Weil sich die Menschen aber gerade jetzt im Frühling zunehmend an der frischen Luft aufhielten […] Und auch jetzt gehen noch nicht alle gleich wieder normal einkaufen. Das trage zu einer niedrigen Ansteckungsrate bei.“
Das reicht jetzt plötzlich, um die zweite Welle zu verhindern? Neulich klang das aber anders…
Die Süddeutsche Zeitung ist hier noch etwas optimistischer, und verkündet, wir müssen nur ein wenig Geduld haben. Zur Aufmunterung gibt’s ein schönes Urlaubsbild (mit Mundschutz!):
Eine Antwort auf die Frage warum die Zahl der Neu-Infektionen so niedrig bleibt, gibt der Text so überhaupt nicht her. Ich finde hier nichts zu zitieren.
Allerdings stehen in den Artikel zwei Sätze, die so ziemlich allem widersprechen, was die Süddeutsche in den letzten Monaten geschrieben hat:
„Ein allgemeines Bild lässt sich deshalb von den Zahlen allein nicht ableiten. […] Überhaupt kommt es nicht nur auf die Zahl der Neuinfektionen an.“
Wenn man gar keine Ahnung hat, sind die Zahlen also doch nicht mehr wichtig? Ich bin ratlos.
Die Artikel sind für mich der journalistische Tiefpunkt aus ca. dreißig Jahren, in denen ich beide kenne!
(Und wenn man gerade darüber nachdenkt, die Hoffnung aufzugeben, kommt sowas hier: Rezo’s Zerstörung der Presse. Spoiler: das Video ist eine verkappte Liebeerklärung an den Journalismus!) [ENDE UPDATE]
Was bleibt mir jetzt also noch übrig, wenn ich mich objektiv informieren will?
Rohdaten vom Robert-Koch-Institut runterladen, in eine Tabellenkalkulation übertragen um die Kurven und Entwicklungen wirklich zu verstehen.
Um Clickbait zu vermeiden eigene Datenrecherchen, Wissenschaftsmagazine lesen. Und um Hinweise über den Stand der Grundrechte zu finden muss ich die Urteilsbegründungen des Bundesverfassungsgerichts lesen (“Der überaus schwerwiegende [Grundrechts-]Eingriff […] ist deshalb derzeit vertretbar, weil die Corona-Verordnung […] bis zum 19. April 2020 befristet ist.”).
Aber wofür werdet Ihr dann noch benötigt?
- Wenn ich Pressekonferenzen des UKE schauen muss statt der Tagesschau?
- Wenn ich besser Studienpräsentationen lese statt ARD-Extra zu gucken?
- Wenn ich Verfassungsblog und Netzpolitik lesen muss statt Zeit und Frankfurter Allgemeine?
- Wenn ich für Informationen Spektrum der Wissenschaft und Telepolis statt Spiegel und Süddeutsche Zeitung lesen sollte?
Nochmal: Wofür werdet Ihr dann noch benötigt?
Ich weiß es nicht. Es interessiert mich auch jeden Tag weniger.
Aber:
Dank Euch gehe ich in Hamburg auf die nächste Demonstration zugunsten der Grundrechte. Sei es eine „Hygiene-Demo“ oder sonst eine.
Ich werde demonstrieren (in alphabetischer Reihenfolge)
- gegen die AFD
- gegen Bill-Gates-Hasser
- gegen Covidioten
- gegen die G5-Funkmasten-Absäger
- gegen die Maskenpflicht
- gegen Reichsbürger
- gegen Verschwörungstheorien
und für die Grundrechte §1, §2, §4, §5, §8 und §11 Grundgesetz!
[UPDATE 30.01.2021]: Fortsetzung mit Teil 2 hier