Quo vadis, Massnahmen?
Ein genauerer Blick in das Kleingedruckte der Evaluierung der Corona-Massnahmen durch den Sachverständigenausschuss
Am 01. Juli hat der Sachverständigenausschuss seine ‘Evaluation der Rechtsgrundlagen und Massnahmen der Pandemiepolitik’ vorgestellt bzw. abgegeben. Darüber wurde in den Medien erfreulich ausgiebig berichtet. Weniger erfreulich ist die Rosinenpickerei bei den Ergebnissen, die bei ausbleibender Lektüre des gesamten Berichts den Eindruck vermittelt: im Großen und Ganzen ist alles in Ordnung, die Massnahmen wirken (genug) und wir sollten uns mal um Daten kümmern.
Das steht so aber nicht im Bericht. Schauen wir uns den doch mal etwas genauer an: (Der vollständige Bericht ist hier beim BMG als PDF abrufbar)
Das Fazit gleich zu Beginn, ich zitiere einfach mal die Zeitung DIE WELT. Deren Titel scheint mir angemessener als die von Tagesschau, SZ, FAZ, ZEIT und Spiegel:
Bewertung der Datenqualität und der begleitenden Forschung
Der Bericht beginnt nach einer Zusammenfassung (Executive Summary genannt) gleich mit der Aufzählung des grundlegenden Problems aller Massnahmen und aller Bewertungen: den fehlenden Daten(erhebungen).
“[Es] fehlte eine ausreichende und stringente begleitende Datenerhebung, die notwendig gewesen wäre, um die Evaluierung einzelner Maßnahmen oder Maßnahmenpakete zu ermöglichen.” — S.9
Und:
“Neben den Melde- und Surveillance-Daten sollten longitudinale repräsentative Zufallsstichproben zum aktuellen Infektionsgeschehen durchgeführt werden.” — S.10
Nun, zwei Jahre später, ist es leider zu spät:
“[Es ist wichtig, die] Maßnahmen des IfSG kritisch zu evaluieren […]. Aber zugleich erweist es sich als unglücklich, diese Aufgabe erst nach Ablauf von nahezu zwei Jahren Pandemie ernsthaft anzugehen. Insbesondere die bis dahin versäumte Erhebung der notwendigen Daten lässt sich nicht mehr rückgängig machen.” — S.21
Und weil das so bedauerlich und ärgerlich ist, nocheinmal ausführlicher und auch gleich mit Argumenten, falls jemand einwenden möchte, man brauche die vielen Daten gar nicht:
“Daher ist es zwingend erforderlich und gehört eigentlich zur guten Praxis der Pandemiebekämpfung, den Fortschritt bei der Erreichung des geplanten Bekämpfungszieles ständig zu evaluieren […] Auf den ersten Blick erscheint angesichts der enormen, akuten Herausforderungen des Krisenmanagements die Sammlung von verallgemeinerbaren wissenschaftlichen Daten und Information zwar wenig relevant. Genau das Gegenteil trifft jedoch zu: Die Forschung bietet die einzige Möglichkeit, das Ausmaß und die der Krise zugrundeliegenden Triebkräfte zu verstehen und daraus spezifische, verhältnismäßige Maßnahmen, Pläne und Empfehlungen mit konkreter Wirksamkeitseinschätzung zu erarbeiten. Der hohe Stellenwert der durch pandemiebegleitende Forschung erarbeiteten Evidenz in globalen gesundheitlichen Krisen als Grundlage und Katalysator für die Entwicklung von Bekämpfungsrichtlinien und -strategien ist international anerkannt.” — S.25
Das Fazit: es wurden Fehler gemacht, und die Fehler wurden sogar wiederholt:
“Auf eine umfassende pandemiebegleitende Forschung zu verzichten, beeinträchtigt daher die Qualität des Krisenhandelns. So haben Regierungen in der SARS-CoV-2 Krise als Reaktion auf die Ausbreitung von SARS-CoV-2 sogar wiederholt Maßnahmen ergriffen, deren Unwirksamkeit bereits hinlänglich in der Literatur bestätigt oder stichhaltig begründet waren, beispielsweise Grenzschließungen.” — S.25
Das alles hätte man wissen können
— das RKI wusste es 2017
… siehe Nationaler Pandemieplan.
— Prof. John Ioannidis wusste es Mitte März 2020:
… und schrieb auf STATNEWS: “Die wichtigste Information zur Pandemie wäre, die aktuelle Prävalenz der Infektionen durch eine Zufallsstichprobe zu erfassen und diese Erfassung in regelmäßigen Abständen zu wiederholen, um die Inzidenz neuer Infektionen abzuschätzen. Bedauerlicherweise sind dies Informationen, die wir nicht haben. […] Mangels vorliegender Daten zur Pandemie führt die Argumentation ‘auf-das-Schlimmste-verbereitet-sein’ zu extremen Massnahmen wie social distancing und Lockdown. Leider wissen wir nicht, ob und wie stark diese Massnahmen funktionieren.”
— Prof. Gerd Antes wusste es Ende März 2020:
… und sagte im Interview mit dem SPIEGEL: “Die Zahlen, die es derzeit dazu gibt, sind vollkommen unzuverlässig. […] Wenn in Deutschland plötzlich viel mehr getestet wird, findet man zwangsläufig auch mehr Infizierte. Ob sich wirklich mehr Menschen angesteckt haben, weiß man dann aber nicht. […] Wie viele Personen […] infiziert sind, ist daher unklar und wird es bei dieser Art zu testen auch bleiben. [Um das zu ändern, müssten wir] sehr regelmäßig, vielleicht jede Woche, einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt auf Infektionen untersuchen […] um eine solide Entscheidungsgrundlage zu schaffen.”
Jetzt, zweieinhalb Jahre später, weiß es auch die Politik
Und der Bericht fasst den Kenntnisstand noch einmal so zusammen:
“So wird im deutschen Pandemieplan des RKI aus dem Jahr 2017 betont, dass es auch während der Pandemie notwendig ist, die Situation umfassend einzuschätzen, zum Beispiel mit „(sero-)epidemiologischen Untersuchungen zum Verständnis der Erregerausbreitung, der Immunitätslage, des Immunstatus in einzelnen Populationssegmenten und der Gesamtbevölkerung.“” — S.26
Weiter hinten im Bericht wird dieser wichtige Punkt noch einmal aufgegriffen, damit er nicht Vergessenheit gerät:
“Um die Effektivität des Pandemiemanagements in Deutschland genau beurteilen zu können, bräuchte es repräsentative Zufallsstichproben, Sentinelstichproben, aussagekräftige Statistiken zur Krankenhausbelegung und ähnliches. Methodisch müsste man systematisch mit Kontrollgruppen und Kontrollzeitpunkten arbeiten.” — S.71
Wissenschaftliche Bewertung der Massnahmen
Die Massnahmen erhalten im Gewand höflicher Formulierungen eigentlich nichts weniger als eine hundsmiserable Note.
Es geht los, mit der sehr wohlformulierten Aufforderung mal zu prüfen, ob der immense Aufwand der Kontaktnachverfolgung, welcher die Gesundheitsämter in Deutschland an den Rand Ihrer Leistungsfähigkeit und darüber hinaus gebracht hat, sich gegenüber dem Ratschlag “wer krank ist, bleibt zuhause” überhaupt lohnt:
“[Es] sollte dringend erforscht werden, unter welchen Prämissen (unter anderem Erreger-Generationszeit, Testqualität, Zeitpunkt der Infektiosität vor oder nach Symptomen, Nachverfolgbarkeit) der Nutzen der Kontaktpersonennachverfolgung (KPN) im Vergleich zum Anraten des „Zuhausebleibens“ bei Symptomen überwiegt.” — S.12
Das muss man sich mal vorstellen: ‘Zuhause bleiben’ statt ‘Überlastung des Gesundheitsämter’ . Stärkere Kritik geht kaum — auch wenn sie ganz unscheinbar daher kommt.
Die Massnahmen bräuchten dringend auch begleitende Forschung, da sonst schädliche, unbeabsichtigte Wirkungen unerkannt bleiben:
“Denn ohne Evaluierung bleibt unklar, welche der Maßnahmen tatsächlich wie beabsichtigt die Situation verbessert haben, oder ob sie ineffektiv oder gar schädlich waren. Das Versäumnis, Interventionen auf Ihre Wirksamkeit zu untersuchen, verhindert Nachsteuerung und Kurskorrekturen und schmälert die zukünftige Handlungsfähigkeit des Krisenmanagements.” — S.26
Was auch das RKI seit sehr langer Zeit weiß:
“Bereits im Jahr 2001 wurde vom RKI darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit der im Infektionsschutzgesetz verankerten Non-pharmaceutical interventions (NPI=”Massnahmen”) im Pandemiefall, etwa die Schließung von Schulen und Gemeinschaftseinrichtungen, das Verbot von Veranstaltungen oder die Verhängung einer Quarantäne genauso wie Grenzkontrollen oder Beschränkungen des internationalen Reiseverkehrs, nicht näher untersucht und deren Wirksamkeit daher unbekannt sei. […] Der im Jahr 2016 aktualisierte Pandemieplan des RKI beinhaltet weiterhin eine lange Reihe von NPI, deren Wirkungen nicht erforscht sind.” — S.27
Wie an vielen Stellen geht der Sachverständigenausschuss hier ins Detail, was einen Großteil der 165 Seiten ausmacht, was ich hier nur einmal exemplarisch zitieren möchte:
“Die Bewertung der Wirksamkeit von Maßnahmen der Pandemiebekämpfung ist folglich nicht bereits dadurch obsolet, dass keine kontrollierten experimentellen Studien möglich sind. Wenngleich die weitgehend sichere Erkenntnis, wie sie in den Naturwissenschaften zumindest teilweise möglich ist, bei der Evaluation der Wirkungen staatlicher Interventionen zur Pandemiebekämpfung ausgeschlossen ist, können mit Hilfe von in der Realität beobachteten Daten häufig überzeugende Aussagen zu Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen getroffen werden.” — S.29
Soviel zum dähmlichen Tweet die „Die Abwesenheit von Evidenz zur Wirksamkeit ist keine Evidenz für die Abwesenheit von Wirksamkeit.” (Dämlich mit ‘h’ — Quelle)
Weitere Erkenntnisse des Berichts
Die untersuchten Massnahmen wirken nur eventuell:
“wenngleich die Maßnahmen wohlbegründet sein mögen, ist ihre tatsächliche Wirksamkeit nicht unbedingt gewährleistet.” — S.33
Nein, die untersuchten Massnahmen wirken eher nicht:
“Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar.” — S.80
Die untersuchten Massnahmen korrelieren auch nicht mit dem Pandemieverlauf:
“Es zeigt sich, dass die Wendepunkte („peaks“) oft nicht mit der Einführung bestimmter Maßnahmen(pakete) zusammen fallen und teilweise bereits vor den Maßnahmen erfolgten.” — S.82
Auch das hätte man wissen können
— die Autorengruppe der Thesenpapiere beschreibt genau diese Probleme bereits Anfang April 2020
… im Monitor Versorgungsforschung.
(Weiteres zu den mittlerweile 8 Thesenpapieren hier und hier.)
Eindeutiger hingegen ist die Sachlage bei den Kollateralschäden:
“Die bislang ersichtliche Bandbreite der nicht-intendierten Wirkungen der Lockdown-Maßnahmen ist erheblich. Sie reichen von der
• Verschlechterung der Grundgesundheit durch verschobene medizinische Behandlungen,
• nicht erkannte Erkrankungen und damit Einschränkung der Behandlungsoptionen,
• Einbußen an Bildungsqualität und -angeboten insbesondere für sozial Benachteiligte,
• Steigerung der häuslichen Gewalt gegenüber Frauen und Kindern,
• Verschiebungen von Geschlechterrollen,
• Zunahme von psychischen Erkrankungen und Verlusterlebnissen durch Tod bis hin zu
• existentiellen Nöten
und haben auch gesamtgesellschaftlich große ökonomische und soziale Folgen.” — S.82
Es folgen weitere konkrete Aussagen zu Folgen von Landkreisebene bis weltweit, die nichts weniger als erschütternd sind.
Die Übersterblichkeit während der Corona-Krise (soweit sie über einen Zeitraum wissenschaftlich untersucht wurde) beruht knapp zur Hälfte nicht auf Corona sondern auf der Angst vor Corona:
“[Es war] im Frühling 2020 eine Übersterblichkeit zu verzeichnen […], die zu etwa 55 Prozent auf COVID-19 und rund 45 Prozent auf das Ausbleiben bestimmter (Notfall-) Behandlungen beruhte. […] Zwar gingen mit den Lockdowns zunächst andere virale Erkrankungen zurück, nach dessen Aufhebung nahmen diese aber teilweise wieder zu und übertrafen vorherige Peaks aus der Zeit vor der Pandemie. […] wurden zurückbeordert.” — S.83
Eine weltweite, in Deutschland kaum wahrgenommene, Folge der Massnahmen sind eine viertel Milliarde hungernde Menschen und andere Grausamkeiten:
“Geschätzte 276 Millionen Menschen weltweit, die Hunger leiden oder sich in der Gefahr einer Hungersnot befinden, geschätzte 2 Millionen Mädchen und junge Frauen, deren Genitalien beschnitten wurden und eine erdrückende Zunahme an Kinderehen sind hier in den Blick zu nehmen.” — S.83
Ebenso schlecht ist die Bewertung des Sachverständigenausschuss der Begründung der Massnahmen durch die Politik:
“Zu einigen bedeutenden Komponenten der Pandemieeindämmung der Bundesregierung, wie zum Beispiel der Quarantäne, gibt es auch gegenwärtig nur „Evidenz von geringer Vertrauenswürdigkeit aus Studien mit mathematischen Modellen…(wobei) das Ausmaß der Reduktion (von COVID-19-Infektionen) ungewiss ist“. — S.28
Nichts genaues weiß man nicht:
“Wenn erst wenige Menschen infiziert sind, wirken Lockdown-Maßnahmen deutlich stärker. […] Einschränkend ist allerdings festzuhalten, dass sich die Stärke des Lockdown-Effekts aufgrund fehlender wissenschaftlicher Begleitung, Kontrollgruppen und Erfahrungswerte nicht kausal und umfassend abschätzen lässt.” — S.84
Und:
“Die wenigen vorliegenden Studien ergeben zudem ein sehr heterogenes Bild,
insgesamt erscheint die nachgewiesene Wirkung auf Bevölkerungsebene aber eher gering. […] Dies wird darauf zurückgeführt, dass die Ansteckungswahrscheinlichkeit in den Bereichen, für die ein solcher Ausschluss durchführbar ist, ohnehin vergleichsweise gering ist. Gleichzeitig sind aber empfindliche Schäden anzunehmen (zum Beispiel Arbeitsplatz, soziale Teilhabe)” — S.87
In normalen Zeiten wäre das ein Paradebeispiel für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch Gerichte, die zugunsten des Bürgers ausgeht. Wie gesagt, in normalen Zeiten…
Auch das RKI kriegt sein Fett weg, zwar nur im Konjunktiv, aber dennoch denkbar harsche Kritik. Zunächst für das Unterlassen:
“Diese Institution stünde bei der Lösung des identifizierten Daten- und Studienproblems somit auch selbst in der Pflicht. [… Es] existiert auch immer noch kein nationaler Katalog der drängendsten epidemiologischen Fragen, der als Grundlage für die Priorisierung und abgestimmte Umsetzung nationaler oder regionaler Studien dienen könnte. […] Selbst die Gesetzlichen Krankenkassen haben ihre enormen Datenbestände bislang offenbar erfolglos für eine datenschutzgerechte Analyse angeboten, zum Beispiel bei der Verknüpfung von Impf- mit Gesundheitsdaten, die mit einem relativ geringen Aufwand zu verwirklichen wäre.” — S.27
Das muss man sich mal vorstellen. In der größten Gesundheitskrise der Welt sind die Krankenkassendaten von der Pandemie entkoppelt. Es gibt keine Kartenlesegeräte in den Impfzentren. Zu aufwendig und zu teuer, heißt es.
Aber auch bei den allgegenwärtigen Bezuggrößen der Pandemie hagelt es Kritik vom Sachverständigenausschuss:
“Früh im Verlauf der Pandemie galt als Schlüsselparameter die 7-Tage-Inzidenz. Dieser Wert ist insofern problematisch, als es sich um die 7-Tage-Melderate pro 100.000 Einwohner handelt, die abhängig von Teststrategien ist, nicht alle positiven Testergebnisse (etwa Antigen-Schnelltests) erfasst und die Dunkelziffer an Infektionen nicht berücksichtigt. […] Eine valide Inzidenz, also die tatsächliche Erkrankungsrate, kann nur mit repräsentativen Zufallsstichproben ermittelt werden bzw. durch Modellrechnungen abgeschätzt werden. […] Im Gegensatz zu den Meldedaten erfasst eine repräsentative Stichprobe in einem deutlich höheren Maß auch die Dunkelziffer und ist damit für das Pandemiemanagement geeignet.” — S.48
Ich muss hier nochmal auf der 7-Tage-Inzidenz herumreiten. Diese ist das größte Ärgernis der gesamten Pandemie. Einfach weil zig Millionen Erwachsene nicht erkennen, dass die 7-Tage-Inzidenz kein Verhältnis (“50/100.000”) ist, als was sie verkauft wird, sondern das Gegenteil, ein Produkt (Virushäufigkeit in der Bevölkerung x Testhäufigkeit), umgerechnet auf eine Gruppe von 100.000 Personen, damit es nach Verhältnis aussieht.
Bei einer Verbreitung des Virus in z.B. 1% der Bevölkerung, kann man mit der Steuerung der Testzahlen jede 7-Tage-Inzidenz zwischen 0 und 1.000 erreichen, die man gerne hätte. Was für ein Theater.
Hier im Bericht heißt es immerhin bzw. nur zaghaft: “abhängig von Teststrategien”. Abhängig von der Teststrategie kann die 7-Tage-Inzidenz alles zwischen 0 und 1.000 betragen.
Das hätte man wissen können
— s p ä t e s t e n s seit Prof. Bergholz Ende Oktober 2020 als Sachverständiger vor dem Bundestag sprach
… dort wies er darauf hin, dass “eine elementare Regel bei Messung auf der Basis einer Stichprobe ist, dass der festgestellte Zahlenwert nicht von der Größe der Stichprobe abhängen darf.”
— aber eigentlich seit der sechsten Klasse :-(
Rechtliche Bewertung der Massnahmen
Zum brisanteren Teil:
Die (verfassungs)rechtliche Bewertung der Massnahmen. Diese kommt zu einem noch schlechteren Ergebnis als die wissenschaftliche.
Wir müssen uns hier mal mutig ein bischen tiefer in das Verfassungsrecht begeben. Zunächst die Ausführungen im Evaluierungsbericht:
“ Jede Aussage zur ursächlichen Wirkung einer Maßnahme, und dies gilt auch für die staatlichen Interventionen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie, beruht auf einem Kontrast zwischen dem tatsächlich mit der Maßnahme Erreichtem und derjenigen Situation, die sich bei einem hypothetischen, dem „kontrafaktischen“, Verlauf der Dinge ergeben hätte. […Dies] wird dies so gut wie nie mit völliger Sicherheit gelingen: Empirische Belege müssen meist auf der Basis von Stichproben und/oder unvollständigen Datenbeständen ermittelt werden, es wird daher typischerweise ein Element der statistischen Restunsicherheit verbleiben. Somit bleiben wissenschaftliche Aussagen zu Ursache und Wirkung von Maßnahmen immer vorläufig. Dies bedeutet jedoch nicht, aufgrund dieser Unzulänglichkeiten generell auf Wirkungsstudien zu verzichten.” — S.28
Äh, kontra-was? Hätte man wissen können sollen?
— Niemals
Geht aber noch weiter:
“Rein deskriptive Ansätze, so präzise sie das tatsächliche Geschehen auch erfassen mögen, sind ebenso wie eine sorgfältige Buchhaltung über die verausgabten Finanzmittel ungeeignet, um die Wirkung einer Maßnahme einzuschätzen, da sie die entscheidende Frage nach einer angemessenen Vergleichssituation nicht stellen.” — S.30
Was soll einem das sagen?
Diese Problematik ist ein absolut zentraler Sachverhalt für die Rechtsprechung, den -so weit ich das beurteilen kann- auch das Bundesverfassungsgericht in dieser Epidemie noch nicht verstanden hat.
Es geht nicht um das Tragen einer Maske zur Rettung des Gesundheitswesens, sondern darum, wie es dem Gesundheitswesen ergeht, wenn die eine Maske nicht getragen wird.
Glücklicherweise kann ich hier jemanden zitieren: den Verfassungsrechtler Prof. Dietrich Murswieck, der im März 2021 über die Verhältnismäßigkeitsprüfung schreibt:
“Dies wird in der Rechtsprechung regelmäßig falsch gemacht — mit der Folge, dass wegen der Fehlgewichtung des Nutzens regelmäßig die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Maßnahmen bejaht wird. […Es darf] nicht das konkrete Ziel als solches (also etwa die Vermeidung eines Gesundheitsnotstands) in die Waagschale gelegt werden, sondern nur der Beitrag, den die zu beurteilende Maßnahme zur Erreichung dieses Ziels leistet.” — S. 6 [im PDF]
D.h. er sagt, dass die Begründung in Gerichtsurteilen, in dem ein abstraktes Ziel staatlicher Massnahmen einer Grundrechtseinschränkung einer (klagenden) Person gegenüber gestellt wird, falsch ist.
Beispiel gefällig? Das aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgericht zur Impfnachweispflicht vom April 2022. Dort heißt es in RN230:
“Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung steht im Ergebnis die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber.”
Hier wird die Gefahr möglicher Nebenwirkungen einer Impfung des Klägers mit der abstrakten Gefahr für Leib und Leben aller vulnerabler Menschen in Bezug gesetzt.
Murswieck dazu (anhand eines Beispiels in Baden-Württemberg in seinem Text): “Die Abwägung, die das Gericht vornimmt, mag auf den ersten Blick suggestiv einleuchtend sein. Bei genauerem Hinsehen ist sie absurd. Sie beruht auf einer Fehlgewichtung um mindestens den Faktor 10 Mio.”
Diese Problematik, diese Fehlgewichtung um “den Faktor 10 Mio.” bei den Begründungen und den Überprüfungen der Massnahmen ist das Problem, das in dieser Epidemie kaum jemand verstanden hat. Die Politik jedenfalls nicht. Die Gerichte nicht. Und die Medien auch nicht.
Der Sachverständigenausschuss anscheinend schon. Nur versteckt er diese Einsicht in einem 160 Seiten langen Dokument.
Aber auch die weiteren Ausführungen zu den Massnahmen haben es in sich.
Ein Klassiker für die Verhältnismäßigkeitsprüfung:
“Wenn erst wenige Menschen infiziert sind, wirken Lockdown-Maßnahmen deutlich stärker. […] Je länger ein Lockdown dauert und je weniger Menschen bereit sind, die Maßnahme mitzutragen, desto geringer ist der Effekt und umso schwerer wiegen die nicht-intendierten Folgen. Einschränkend ist allerdings festzuhalten, dass sich die Stärke des Lockdown-Effekts aufgrund fehlender wissenschaftlicher Begleitung, Kontrollgruppen und Erfahrungswerte nicht kausal und umfassend abschätzen lässt.” — S.84
Der Klassiker mit Bezug zum Bundesverwaltungsgericht, das 2013 in einer berühmten Entscheidung schrieb, dass eine Annahme wahrscheinlicher sein müsse als das Gegenteil:
“Zur Bewertung von Maßnahmen, die eine Unterscheidung zwischen geimpften und ungeimpften Teilen der Bevölkerung machen, muss die Wahrscheinlichkeit der Infektion unter geimpften Personen sowie deren Infektiosität gegenüber ungeimpften und geimpften Personen beurteilt werden.” — S.85
Und:
“Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Risiko zur Ansteckung mit und die Verbreitung von SARS-CoV-2 von geimpften und ungeimpften Personen durch die Entstehung neuer Varianten (v.a. Omikron) mit höherer Übertragbarkeit und verbesserter Immunflucht nach den ersten Monaten sich auf ein ähnliches Niveau angleicht.” — S.86
Ein eigenes Thema ist das Leiden des Grundgestzes unter den pandemischen Bedingungen. Es geht los mit einer Fundamentalkritik daran, wie die Politik mit dem Grundgesetz bzw. den resultierenden eigentlich bindenden Vorgaben umgeht:
“Es gibt keinen Verfassungssatz, wonach die Regeln des Grundgesetzes nur für einen — wie auch immer zu definierenden — Normalzustand gelten. Einen durch das Recht angeblich nicht fassbaren Ausnahmezustand kennt es dementsprechend nicht. Daher ist dem Grundgesetz die Vorstellung, ein Verfassungsorgan könne ohne rechtliche Bindungen handeln, um die Verfassungsordnung insgesamt zu retten, fremd.” — S.138
Der Sachverständigenausschuss sieht Fundamente unseres Staatsgefüges angegriffen (“staatsorganisationsrechtlichen Verschiebungen”, S.140) und macht der Politik allgemein gehaltene Vorwürfe:
“Auch in einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ bleiben daher insbesondere der im Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip gründende Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2, 3 GG), das Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 30 ff., 70 ff., 83 ff. und 92 ff. 104a ff.GG) und die Grundrechte verbindliche Maßstäbe staatlichen Handelns. Über diese verfassungsrechtlichen Bindungen könnte auch der Bundestag nicht mit einem Feststellungsbeschluss, wie ihn § 5 Abs. 1 S. 3 IfSG vorsieht, disponieren. Die Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen (§ 5 Abs. 2 IfSG) muss daher ebenso den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG genügen wie § 28a IfSG dem Parlamentsvorbehalt (Art. 20 Abs. 2, 3 GG); etwaige Verstöße können nicht durch einen Feststellungsbeschluss „geheilt“ werden. […] Allerdings hätte der Gesetzgeber dann im regulären Gesetzgebungsverfahren durch Schaffung neuer Ermächtigungsgrundlagen zeitnah nachsteuern müssen, was zunächst nicht und dann im November 2020 erst geschehen ist, nachdem mehrere Gerichte zu erkennen gegeben hatten, dass sie die infektionsschutzrechtliche Generalklausel nicht mehr als hinreichende Rechtsgrundlage für Grundrechtseingriffe ansehen.” — S.139
Dann werden konkreter einzelne §§ des IfSG kritisiert:
“Die „Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 IfSG) ist damit eine juristisch insgesamt fragwürdige Konstruktion.” — S.141
Im Folgende geht es ans Eingemachte, das Grundgesetz und die Verfassung scheinem dem Ausschuss in höchster Gefahr:
“§ 5 Abs. 2 IfSG […] stößt auf massive verfassungsrechtliche Bedenken. Zum einen wird dadurch die verfassungsrechtliche Normenhierarchie auf den Kopf gestellt; zum anderen genügt die Norm nicht den Anforderungen, die Art. 80 Abs. 1 GG an die gesetzliche Ermächtigungsnorm stellt. […] Art. 20 Abs. 3 GG drückt das so aus: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ Das Gesetz steht demnach nicht zur Disposition der Verwaltung, sondern bildet deren unverrückbare Grundlage. Diese verfassungsrechtlich fundierte Normenhierarchie wird nun durch § 5 Abs. 2 Nr. 3, 4, 7, 8 und 10 IfSG auf den Kopf gestellt.” — S.141
Weiter:
“Kurzum: die genannten Bestimmungen des § 5 Abs. 2 IfSG sind verfassungswidrig. […] Schließlich wäre der normhierarchische Gesichtspunkt auch durchschlagend, wenn es nicht auch noch an der fehlenden Bestimmtheit der Ermächtigung im Sinne des Art. 80 Abs. 1 GG gemangelt hätte. […] Denn ein weiterer Verfassungsverstoß tritt hinzu. Er betrifft das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG. Danach sind „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung“ im Gesetz zu bestimmen. Literatur wie vor allem die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur legt hier relativ strenge Maßstäbe an. Der Gesetzgeber muss die programmatische Steuerung der Verordnung maßgeblich vorausbestimmen. “ — S.143
Man kann fast Angst vor Umsturzversuchen bekommen:
“Im Falle der Ermächtigungen in § 5 Abs. 2 IfSG kann indes von einer irgendwie erkennbaren Begrenzung im Hinblick auf Inhalt, Zweck oder Ausmaß keine Rede sein. […] Es handelt sich also […] letztlich um eine Art von „Blankovollmacht“. Das ist das Gegenteil dessen, was das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 GG bezweckt. […] Die mit § 5 Abs. 2 IfSG vorgenommene Verlagerung wesentlicher Entscheidungsbefugnisse aufeine gesetzlich nicht nur nicht angeleitete, sondern zur Veränderung einer Vielzahl gesetzlicher Regelungen ermächtigte Exekutive wird im rechtswissenschaftlichen Schrifttum de constitutione lata [=nach geltendem Verfassungsrecht] zu Recht ganz überwiegend für verfassungswidrig gehalten.” — S.143
Das klingt nach verfassungsrechtlicher Totalschaden…
Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.
Im Bericht steht aber noch mehr. Wer hier noch bei mir ist, will vielleicht noch mehr wissen. Bitte, hier noch mehr aus dem Bericht:
ANHANG
Weitere Bewertung von Massnahmen
Hier noch weitere interessante Aussagen aus dem Bericht, die ich der Vollständigkeit halber noch anfüge:
Schulschließungen
Nutzen nach wie vor unklar, Schaden eindeutig:
“Die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus ist trotz biologischer Plausibilität und zahlreicher Studien weiterhin offen, […] Die deutlichen wissenschaftlichen Beobachtungen und Studien zu nicht-intendierten Wirkungen sind wiederum nicht von der Hand zu weisen.” — S.12
Und:
“[…] die Wirksamkeit und die Stärke des Effekts von Schulschließungen auf das Infektionsgeschehen [sind] weiterhin unsicher.” — S.94
Die vermeintlichen Treiber der Pandemie sind eigentlich die Bremse:
“Es ist festzuhalten, dass sich Kinder und Jugendliche zwar ebenso mit SARS-Cov-2 infizieren und die Infektion auch an Erwachsene und Risikogruppen weitergeben können; vor allem jüngere Kinder infizieren sich jedoch weniger häufig und tragen das Virus seltener in die Familien. Bei den neueren Varianten ist dieser Effekt weniger stark ausgeprägt. […] Es muss allerdings im Auge behalten werden, dass regelmäßiges anlassloses Testen in Schulen ein scheinbar höheres Infektionsgeschehen unter Schülerinnen und Schülern darstellt, im Grunde aber in dieser Bevölkerungsgruppe die Dunkelziffer (Erfassung asymptomatisch Infizierter) nur besser ausgeleuchtet wird.” — S.93
Maskenpflicht
Nach wie vor, weiß man -entgegen vieler anderslautender Behauptungen- nicht was die Maskenpflicht (über die “Sichtbarmachung” der Pandemie hinaus) bringt:
“Neben der allgemeinen und im Labor bestätigten Wirksamkeit von Masken ist nicht abschließend geklärt, wie groß der Schutzeffekt von Masken in der täglichen Praxis sind, denn randomisierte, klinische Studien zur Wirksamkeit von Masken fehlen. Es ist zu beachten, dass das Tragen von Masken auch einen psychologischen Effekt hat, da durch Masken im Alltag allgegenwärtig auf die potentielle Gefahr des Virus hingewiesen wird. Die Maske ist daher zum immer sichtbaren Symbol der Infektionsprophylaxe und stiftete damit Vigilanz bei den Menschen.” — S.99
Stand der Wissenschaft: “ein bisschen”:
“In einer Analyse des ECDC wird die Wirksamkeit von medizinischen Gesichtsmasken zur Prävention von COVID-19 in der Bevölkerung als moderat eingestuft.” — S.100
ANHANG 2
Presseschau zum Thema
Es gibt dieser Tage ein paar erstaunliche Artikel in den Medien, die ich sozusagen als weiterführende Lektüre empfehle:
05.07.22 — DIE ZEIT
05.07.22 — DIE WELT
Leider hinter der Paywall. Daher hier zwei Stellen als Zitat:
“Damit die Gerichte ihre Arbeit machen und die staatlichen Eingriffe rechtlich prüfen können, benötigen sie klare wissenschaftliche Erkenntnisse. Wenn der Staat nicht alles daran setzt, die notwendigen Daten zu erheben und zu analysieren, entzieht er sich der Kontrolle durch die Justiz. Man mag daher kaum glauben, dass der Sachverständigenausschuss offenbar nicht einmal ausreichend durch Personal unterstützt wurde — das wäre ein leichtes gewesen. […]
Was bedeutet das für den Herbst, wenn wir aller Voraussicht nach wieder über Maßnahmen diskutieren werden? Gesetz- und Verordnungsgeber werden sich wieder darauf berufen, dass Schulschließungen möglicherweise sinnvoll sind — der Beweis des Gegenteils konnte schließlich nicht erbracht werden.”
05.07.22 — Berliner Zeitung
05.07.22 — Cicero Magazin
08.07.22 — Der Freitag
12.07.22 — Cicero Magazin
Leider hinter der Paywall. Daher hier einige Zitate:
“Den Lockdowns stellt die Kommission ein vernichtendes Zeugnis aus. Sie wirken höchstens am Anfang einer Pandemie, und sie haben viele unerwünschte Nebenwirkungen. Ähnlich verheerend urteilen sie über die 2G/3G-Maßnahmen. Ihre Wirkung halten sie für „eher gering“. […] Schaut man genauer hin, ist das Ergebnis der Sachverständigenkommission auch eine heftige Kritik am obersten deutschen Gericht. Auf einer deutlich breiteren wissenschaftlich-empirischen Basis kommt der Report zu einem völlig anderen Ergebnis als das Gericht: Die Maßnahmen waren wenig oder gar nicht wirksam. Das hat eine verfassungsrechtliche Konsequenz. Freiheitseinschränkungen, die nicht wirksam die Pandemie bekämpfen, können nicht verfassungsgemäß sein. Vor diesem Hintergrund sind die Urteile des Karlsruher Gerichts zur Bundesnotbremse klare Fehlentscheidungen. Die selbst ernannten „Hüter der Verfassung“ müssen sich fragen lassen, ob sie ihre Aufgabe während der Corona-Pandemie erfüllt haben.”