Was wäre die Lösung?
Ein Übersicht über den Kenntnisstand zum und die Maßnahmen gegen das Corona-Virus — Stand 19.09.2020
Dieser Artikel ist der Vierte in einer mittlerweile fünfteiligen Serie.
— Die aus dieser Artikelserie entstandene Vorbereitung einer Verfassungsbeschwerde ist hier zu finden.
Zur Einordnung nochmal vorweg: ich bin ein ziemlich hobbyloser (sagt meine Tocher besorgt) Familienvater aus Hamburg, und wundere mich, in welche Schubladen ich gesteckt werde: vor einiger Zeit war ich noch Teil der linksgrün-versifften Bildungs-Bourgeoisie, aktuell gehöre ich zu meinem Erstaunen und gegen meinen Willen anscheinend zu den Reichsbürgern, Impfgegnern, der AFD, der FDP und den Verschwörungstheoretikern.
Eigene Einschätzung: #Team Püschel #Team Streeck #Team Ioannidis
— Hinweis: Links sind hier nur unterstrichen, nicht zusätzlich farbig —
— noch ein Hinweis: die Auswahl der Quellen war der schwierigste Teil. Nicht nur habe ich diese so stark gekürzt, daß es schon an Mißhandlung des geistigen Eigentums grenzt, auch sind hier (vor allem in Kapitel 2) wesentlich mehr Quellen weggelassen als zitiert.
[Die Quellenangaben habe ich nach unten ans Ende des Artikels verschoben]
Ich hoffe, meine Auswahl hat das allerwichtigste berücksichtigt, denn dieser Text hat so immer noch etwa eine knappe Stunde Lesezeit (medium.com übertreibt hier mit den 80 Minuten)—
— und noch ein Hinweis: wer mag, möge die Zitate (schwarzer Balken links) überfliegen, und nur dann ganz lesen, wenn die daraus abgeleiteten Aussagen gar zu unglaublich sind. In Kapitel 1 (Vergangenheit, bis 2019) kommen zuerst die Kernaussagen, dann das Zitat, in Kapitel 2 (Gegenwart, ab 2020) ist es anders herum—
Meckern kann jeder!
— Hab ich in den ersten drei Artikeln ausgiebig getan.
Daher heute mal ausschließlich konstruktiv:
Was wäre die Lösung?
- Als Kurzform von: welche verschiedenen, erprobten, mit Erfahrung und Studien unterlegten, in Ihrer Wirksamkeit nachgewiesenen (hier hauptsächlich:) nicht pharmazeutischen Maßnahmen als Lösungsansätze zur Eindämmung und/oder Bekämpung der Corona-Pandemie gibt es für die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche nach derzeitigem Kenntnisstand?
- Um nicht in die hinterher-ist-man-immer-schlauer Falle zu laufen unterscheide ich hier nach:
- a) was wußte¹ man² vor 2020 schon,
- b) was wußte¹ man² im Frühjahr, was im Frühsommer diesen Jahres,
- c) was weiß¹ man² heute.
¹ ‘weiß’ und ‘wußte’ ebenso wie ‘hätte man wissen müssen’
² ‘man’ hier beschränkt auf die Wissenschaft und die Entscheidungsträger der Politik — eigentlich meint ‘man‘ umgangssprachlich ja alle: ‘man’ weiß gemeinhin daß, was man durch leichten oder intensiven Konsum von Nachrichten erfährt. Da ‘die Medien’ ³ sich im Frühjahr aus vielen ihrer Verantwortungen verabschiedet haben, weiß man eben leider nur das sicher, was man sich an Informationen selber besorgt. [Und noch eine Fußnote:]
³ ‘die Medien’ meint die großen Medienhäuser, die aufgrund Ihrer Reichweite und Stellung als Leitmedien eine Definitionsmacht für den öffentlichen Diskurs haben.
Inhalt des Artikels:
Wie war der Kenntnisstand hierzulande, als das Corona-Virus Europa erreichte?
Was wusste man vorher schon, was wissen wir seitdem?
Was hätte man wissen müssen, und — am spannendsten — was weiß die Wissenschaft mittlerweile, was wird aber von der Politik hartnäckig ignoriert?
1. Das Wissen über Viren und Epidemien -und der Maßnahmen dagegen- vor 2020
2. Das Wissen über Viren und Epidemien -und der Maßnahmen dagegen- in 2020
3. Stand der verfassungsrechtlichen Bewertung der Maßnahmen
1. Das Wissen über Viren und Epidemien — und der Maßnahmen dagegen — vor 2020
Der MDR schreibt am 11.04.2020 ‘Corona: Eine Krise mit Ansage’:
“Pandemie-Szenarien wurden erstellt, man weiß, dass es Corona-Viren gibt, die aggressiver sind als alle früher. Erst SARS 2003, dann MERS 2012. Hätten man wissen müssen, was auf uns zukommt? […] 2012* hat die Bundesregierung ein Krisen-Szenario erstellt und durchdekliniert, inklusive der Maßnahmen, die im Fall einer Pandemie mit einem neuartigen Corona-Virus zu treffen seien. Wer das liest, stellt fest: Wir sind keinesfalls ahnungslos in diese Pandemie geraten. Es war eine Krise mit Ansage, wenn sie auch nicht mit dem aktuellen SARS-Virus erstellt wurde. Die fiktive Pandemie mit dem Virus “Modi-SARS” ähnelt in vielen Punkten der aktuellen Lage, im Seuchenverlauf, in den Engpässen bei Arzneimitteln, Desinfektionsmittelen, Schutzkleidung.”
Die Fachpublikation MTA-dialog ergänzt am 23.04.2020 unter dem Titel ‘Auswirkungen der Corona-Pandemie hätten bekannt sein müssen’:
“Wer also jetzt in der Öffentlichkeit betont, das sei nicht vorhersehbar gewesen, hat offensichtlich seine Hausaufgaben nicht gemacht, denn spätestens seit 2013 ¹ hätte es jeder wissen müssen!”
[¹ Die Ausarbeitung ist von Ende 2012, Veröffentlichung war am 03.01.2013, daher die verschiedenen Jahreszahlen]
— für alle Fälle nochmal: das ist kein hinterher-ist-man-immer-schlauer, sondern ein Bericht darüber, was bekannt war.
Es handelt sich hier um eine Unterrichtung des Bundestages durch die Bundesregierung! — Und ich meckere nicht, ich zitiere.
1.1 Gehen wir zurück ins Jahr 2009
In diesem Jahr veröffentlicht das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) den ‘Guide to public health measures to reduce the impact of influenza pandemics in Europe’ [Quelle ¹], also einen “Ratgeber für öffentliche Gesundheitsmaßnahmen zur Eindämmung der Auswirkungen von Influenza-Pandemien in Europa:
‘Das ECDC ist eine Agentur der Europäischen Union, um die Verhütung und Kontrolle übertragbarer Krankheiten in der EU zu verbessern.’ Gegründet 2004, mit der Aufgabe: ‘rechtzeitige Information der Kommission, der Mitgliedstaaten, der Gemeinschaftseinrichtungen, jedoch ohne Regelungsbefugnis.’
Die dort ausgearbeiteten Kernaussagen sind:
- Eine Pandemie erreicht Europa ca. ein bis drei Monate nach dem ersten Ausbruch in einem anderen Teil der Welt *¹
- Es gibt eine Krankheits-Welle, die etwa drei Monate andauert *²
- Es gibt mehr Unwissen als Wissen über die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen *³
- Modellrechnungen sind mit Vorsicht zu genießen, sie beruhen auf Annahmen, nicht auf Wissen *⁴
- Eine Standard-Pandemie gibt es nicht, sie unterscheiden sich nach Erreger, Schwere, [d.h. Sterblichkeit,] Ansteckungsrate, der bestehenden (ggfs. Kreuz-)Immunität (in der Bevölkerung) und der Anzahl der Wellen *⁵
- Diese vorgenannten Parameter bilden den Rahmen für die Gegenmaßnahmen, die aufgrund Ihrer Nebenwirkungen (noch) akzeptabel sind *⁶
- Wenn sich die Pandemie auf eine bestimmte Altergruppe konzentriert, ist es sinnvoll, die Maßnahmen ebenfalls dort zu konzentrieren *⁷
- Man sollte die Merkmale und Eigenschaften der Pandemie, welche niemals statisch sind, erforschen, die Gegenmaßnahmen flexibel handhaben, und die Nebenwirkungen von Anfang an genau verfolgen *⁸
- Pandemien ändern sich mit der Zeit und mit der Ausbreitung werden sie im Allgemeinen weniger schwerwiegend *⁹
- Epidemien betreffen nie alle Orte gleichzeitig auf die gleiche Weise *¹⁰
- Epidemien breiten sich in Europa meistens von West nach Ost und von Süd nach Nord aus *¹¹
- Schulschließungen sind nur bedingt sinnvoll und oft kontraproduktiv *¹²
- Maßnahmen können abartige Nebenwirkungen haben *¹³
- Die Wissenschaft ist sich uneinig, ob einfache Masken die Übertragungrate verringern oder sogar erhöhen *¹⁴
- Die meisten Maßnahmen bieten keinen vollständigen Schutz, aber das wird nicht erwartet und ist auch nicht notwendig *¹⁵
- Es gibt die Möglichkeit, alle Kinder und Jugendlichen für die Dauer der Pandemie zu Hause zu isolieren, aber derzeit scheint kein Land dies als Option zu sehen *¹⁶
Kaum zu glauben? Das ist 2009 Stand der Wissenschaft.
Dort wurde übrigens flatten-the-curve ‘erfunden’:
Im Folgenden der Text zu den obigen Aussagen. Ich habe die Zitate übersetzt; den englischen Text führe ich aufgrund der sonst entstehenden Gesamtlänge dieses Artikels immer nur soweit an, wie er zum Auffinden im Dokument erforderlich ist, die Fußnotennummern verwende ich hier anders herum als sonst, sie führen zu den Textstellen der oben bereits zusammengefassten Kernaussagen:
“It can be presupposed that following … became affected.” [S. 9 oben]
“Es kann davon ausgegangen werden, dass nach dem *¹ Auftreten einer Pandemie in einem anderen Teil der Welt diese sich nach einem Zeitraum von 1 bis 3 Monaten […] nach Europa ausbreitet […] und in jedem betroffenen Land *² die erste Welle nach ungefähr drei Monaten vorbei sein wird.”“The scientific evidence on the effectiveness of the public health measures contains more gaps than certainties.” [S. 9 oberes Drittel]
*³ “Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Wirksamkeit der Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit enthalten mehr Lücken als Gewissheiten.”“It would be impossible to … are often just that - assumptions.” [S. 9 mitte]
“Es ist unmöglich, Studien prospektiv, in Abwesenheit einer Pandemie, durchzuführen, und sie sind während einer Pandemie nur sehr schwer durchzuführen. […] *⁴ Die komplexesten Modelle können sich der Komplexität und Vielfältigkeit selbst einfach organisierter Gesellschaften nicht einmal annähern. Aussagen wie „Modellierungen haben eindeutig gezeigt, dass…“ müssen daher mit Vorsicht betrachtet werden. Die Aussagekraft von Modellen ist insbesondere durch Unsicherheiten von Werten in den Modellen und wegen der Annahmen, die getroffen werden müssen, eingeschränkt. So sind Annahmen wie „Influenzaübertragung wird gleichmäßig verteilt zwischen Haus, Arbeitsplatz und Schule sowie öffentlichen Orten stattfinden.“ oft genau das — Annahmen.”“Pandemics are not standard … can be justified” [S. 10 oben]
*⁵ “Es gibt keine Standard-Pandemien. Insbesondere unterschieden sich die von 1918/19, 1957 und 1968 in:
• der Art der verursachenden Influenzaviren;
• ihrer Schwere — der Anteil der Infektionen, die zu schweren Krankheiten oder zum Tod führen;
• der Infektiosität und der Reproduktionszahl Ro;
• der vorherigen (=bestehenden) Immunität und damit die am stärksten betroffenen und am stärksten übertragenden Gruppen; und
• ob es eine oder mehrere Wellen gab.
Dies sind entscheidende Variablen. *⁶ Die Schwere einer Pandemie, ob sie leicht, mittelschwer oder schwer ist, bestimmt, wie drastisch die Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit sind, die gerechtfertigt werden können.”“Similarly, if transmission … countermeasures.” [S. 10 mitte]
“Wenn sich die Übertragung auf eine Altersgruppe konzentriert (wie 1957 bei jüngeren Menschen), kann es sich ebenfalls lohnen, sich auf *⁷ Maßnahmen für diese Altersgruppe zu konzentrieren. […]
Diese Tatsachen unterstreicht die Notwendigkeit von:
• frühzeitige Bewertung der Merkmale von Pandemien;
• Flexibilität bei den geplanten Maßnahmen;
• nationale Kommando- und Kontrollstrukturen, die eine schnelle Anpassung oder sogar Änderung von Strategien ermöglichen; und, wenn möglich,
• frühzeitige Bewertung der Wirksamkeit und Wirkungen (positive wie negative) der Gegenmaßnahmen.”“A further complication is … pandemic reaches Europe.” [S. 10 mitte]
“Eine weitere Komplikation besteht darin, dass *⁸ die Merkmale der Pandemie nicht statisch sind. *⁹ Pandemien ändern sich mit der Zeit und wenn sie sich ausbreiten, werden sie im Laufe der Zeit im Allgemeinen weniger schwerwiegend. Dies liegt daran, dass sich diese RNA-Viren ständig weiterentwickeln und die Immunität in der Bevölkerung steigt. Wenn also der Schweregrad — anderswo auf der Welt gemessen — hoch ist, wird es daher wichtig sein, die Messungen zu wiederholen, wenn die Pandemie Europa erreicht.”“Influenza never affects all … West to East and South to North” [S. 10 unten]
*¹⁰ “Influenza betrifft niemals alle Orte gleichzeitig auf die gleiche Weise. Dies wurde jedes Jahr im Rahmen des Europäischen Influenza-Überwachungssystems mit saisonaler Influenza beobachtet und gilt auch für eine Pandemie. Selbst wenn die meisten Orte irgendwann stark betroffen sind, wird dies nicht gleichzeitig geschehen, und eine Pandemie ist am besten als eine Reihe sich überlappender lokaler Epidemien zu verstehen. […] *¹¹ das Ausbreitungsmuster der saisonalen Influenza in Europa [ist*] am häufigsten von West nach Ost und von Süd nach Nord*.
[*Satzbau im Original anders]”“It is self-evident that Europe … anyway.” [S.10-11]
“Es versteht sich von selbst, dass Europa eine sehr vielfältige Region mit unterschiedlichen Bevölkerungsdichten, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen […] ist. Daher gilt “eine Regel für alle“ [‘one size will fit all’] nicht für einige Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit. [Zum Beispiel] *¹² Schulschließungen. Dies kann insbesondere in einigen verstreuten ländlichen Gebieten und weiterführenden Schulen sinnvoll sein, in denen die Schulen wichtige Schwerpunkte für die Vermischung junger Menschen []… sind. In dichten städtischen Gebieten, in denen viele Eltern möglicherweise eine Auszeit nehmen müssen, um sich um die Kinder zu kümmern, und in denen es ohnehin schwierig sein wird, die Kontakte von Kindern untereinander zu stoppen, sind sie möglicherweise weniger sinnvoll und tatsächlich kontraproduktiv.”“Secondary, social and perverse effects” [S.11 oberes Drittel, Kapitelüberschrift!] *¹³ “Soziale und perverse Nebenwirkungen” [ — steht da wirklich!]
“This concept, essentially looking … unacceptable” [S.11 oberes Drittel]
“Dieses Konzeptpapier, bei dem die wesentlichen Kosten, Risiken und Folgen der Anwendung der Maßnahmen untersucht werden, ist von hoher Bedeutung. Maßnahmen, insbesondere die der sozialen Distanzierung, hätten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erhebliche unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Obwohl sie die [Virus-]übertragung verringern können, würden sie insgesamt als negativ oder inakzeptabel beurteilt werden.”“Similarly, if schools are closed …children?” [S.11 oberhalb der Mitte]
“Wenn es Schulschließungen gibt, muss festgelegt werden, wie die Kinderbetreuung organisiert wird.”“Specialists differ in their view over whether general use of simple masks by the general public would increase or reduce transmission” [S.11 Mitte]
*¹⁴ “Fachleute sind sich uneinig, ob die Verwendung einfacher Masken durch die Öffentlichkeit die Übertragung[rate] erhöhen oder verringern würde.”“Many of the measures are … unacceptable.” [S.12 oben]
*¹⁵ “Viele der Maßnahmen können keinen vollständigen Schutz bieten oder es wird nicht von ihnen erwartet. Sie werden das Risiko verringern, aber nicht beseitigen. Dieser Ansatz zielt darauf ab, die Auswirkungen auf die Bevölkerung insgesamt zu verringern. Dies ist besonders wichtig bei Maßnahmen mit erheblichen Nebenwirkungen, bei denen eine vollständige Umsetzung insgesamt inakzeptabel sein kann.”“It was suggested that … option on a mass scale.” [S.13 unten]
“Es wurde auch vorgeschlagen […], dass Kinder und Jugendliche zu Beginn einer Pandemie durch Schul- und sonstige Schließungen an Kontakten untereinander gehindert werden sollten, und weiter *¹⁶ von ihnen verlangt wird, für die Dauer der Pandemie (d.h. drei Monate) zu Hause zu bleiben. Dies könnte in einigen Situationen möglich sein, in den meisten jedoch nicht, und nach Folgenabwägungen scheint kein Land dies als Option in großem Maßstab anzusehen.”
1.2 Acht Jahre später, März 2017
Das Robert-Koch-Instititut veröffentlicht seinen aktuellen Nationalen Pandemieplan [Quelle ²]. Für die Ergänzung vom 04. März 2020 siehe Kapitel 2.
Das RKI ist keine ‘unabhängige wissenschaftliche Einrichtung’ sondern eine ‘selbständige Bundesoberbehörde unter den fachlichen Weisungen des Bundesgesundheitsministeriums’
‘Zentrale Bedeutung kommt dem RKI zu bei der Überwachung übertragbarer Krankheiten’. Es liefert ‘Analysen, Amtshilfe, Richtlinien, Empfehlungen, [und] Informationsfluß an Behörden.’
Daher ist diese Ausarbeitung die erste und maßgebliche Informationsquelle für die Bundesregierung und die Landesregierungen.
Einige wichtige Kernaussagen der Ausarbeitung sind:
- Die relevanten epidemiologischen Parameter müssen bekannt sein *¹⁷
- Fallzahlen und laborbestätigte Fälle gehören nicht dazu, diese führen zu einer erheblichen Untererfassung der Infektionszahlen *¹⁸
- Es muss situations- d.h. Pandemielagegerecht getestet werden *¹⁹
- PCR-Tests sind nur eingeschränkt zu empfehlen, sie unterstützen nur weitere Entscheidungen *²⁰
- Bei längeren Pandemien verlieren die PCR-Tests Ihre Bedeutung *²¹
- Zu Beginn einer Epidemie gibt es keine zuverlässigen Zahlen oder Informationen *²²
- Eine Epidemie/Pandemie kann in Ländern oder Regionen verschieden schwer verlaufen und sich hierin im Laufe der Zeit auch ändern *²³
- Die Anpassung der Maßnahmen gegen die Pandemie ist ein andauernder und kontinuierlicher Prozeß *²⁴
- Die Schutzmaßnahmen werden auf die Personengruppen konzentriert, die ein erhöhtes Risiko für schwere und tödliche Krankheitsverläufe aufweisen, und auf das Personal, das Kontakt zu ihnen hat *²⁵
- Die Schutzmaßnahmen haben das Ziel, schwere Krankheitsverläufe zu verhindern und die Überlastung der Gesundheitssystems zu vermeiden *²⁶
- Wenn die Epidemie den Höhepunkt überschritten hat, muss geprüft werden, welche Maßnahmen fortgeführt werden sollen *²⁷
- Für die Versorgung von Patienten sollten spezielle Schwerpunktkrankenhäuser festgelegt werden *²⁸
- Es ist zu erwarten, daß alte, kranke Menschen besonders stark, (d.h. mit vielen schweren Fällen) von einer Pandemie betroffen sein werden *²⁹
- Es ist bei dieser Risikogruppe weiter auch von vielen zusätzlichen Komplikationen wie Lungenentzündungen auszugehen*³⁰
- Es ist keine gute Idee, alte Menschen zu intubieren *³¹
- Weiter ist davon auszugehen, daß sich auch viel Personal in Alten- und Pflegeheimen anstecken wird *³²
Das klingt wie ein guter Plan und ist 2017 Stand der Wissenschaft.
Im Folgenden wie oben bei der ECDC schon die Textstellen zu den zusammengefassten Kernaussagen:
*¹⁷ “Beim Auftreten einer Influenzapandemie müssen für die Bewertung der epidemiologischen Lage und für die Auswahl der an die Situation angepassten Kontroll- und Bekämpfungsmaßnahmen bestimmte epidemiologische Parameter bekannt sein.” [S.15 links oben]
*¹⁸ “[Meldedaten] eignen sich aber nur sehr eingeschränkt zur Einschätzung der Krankheitslast in der Bevölkerung, da keine Daten über den Krankheitsverlauf erfasst werden. Außerdem gehen in das System nur die labordiagnostisch gesicherten Infektionen ein, was nur einen kleinen Teil der Fälle abbildet.” [S.15 rechts mitte]
*¹⁹ “Die Veranlassung der Diagnostik muss passend zum Verlauf der Pandemie und den veranlassten Maßnahmen erfolgen. Sie soll die Zielstellung der jeweiligen Strategie „Eindämmung“ oder „Folgenminderung“ widerspiegeln.” [S.19 rechts mitte]
*²⁰ “Schnelltests liefern zwar ein zeitnahes Ergebnis, können aber wegen niedrigerer Sensitivität und Spezifität nicht uneingeschränkt empfohlen werden. Im Einzelfall kann ein Schnelltest vor Ort zur schnellen Unterstützung der Entscheidung über Therapie und weiteres Prozedere eingesetzt werden.” [S.20 rechts mitte]
*²¹ “Bei anhaltender Übertragung des pandemischen Virus in der Bevölkerung wird die Labordiagnostik nur eine untergeordnete Rolle spielen.” [S.20 rechts unten]
*²² “Weder zur Schwere der Erkrankung, noch zur Transmissionsrate kann bei Beginn der Zirkulation eines neuen Influenzavirus (Reassortante) eine zuverlässige Aussage getroffen werden. Diese unbekannten Größen müssen daher sukzessive in die Entscheidung über notwendige Maßnahmen Eingang finden. *²³ Zudem können sich die einzelnen Situationen zwischen verschiedenen Regionen oder Ländern unterscheiden und sich im Verlauf einer Pandemie ändern. Die Handlungsoptionen sollen deshalb als „Baukastensystem“ auf Entscheidungsprozessen nach einheitlichen Kriterien basieren.” [S.23 rechts oben]
*²⁴ “Die Anpassung der Strategie an die jeweilige Situation ist als kontinuierlicher Prozess zu verstehen. […] *²⁵ Schutz vulnerabler Gruppen: Die Schutzmaßnahmen werden auf die Personengruppen konzentriert, die ein erhöhtes Risiko für schwere und tödliche Krankheitsverläufe aufweisen. Dies umfasst auch Personen, die engen Kontakt zu vulnerablen Gruppen haben, z. B. medizinisches Personal. […] *²⁶ die eingesetzten Schutzmaßnahmen [haben] vor allem das Ziel, schwere Krankheitsverläufe zu verhindern und Krankheitsspitzen mit einer Überlastung der Versorgungsstrukturen zu vermeiden. […] *²⁷ wenn die Influenzaaktivität in Deutschland den Höhepunkt überschritten hat, muss geprüft werden, welche Maßnahmen fortgeführt werden sollen (lageabhängige und situationsangepasste Deeskalation).” [S.23–24]
*²⁸ “Es kann zweckmäßig sein, für die Versorgung von Influenzapatienten spezielle Schwerpunktkrankenhäuser festzulegen.” [S.34 links mitte]
*²⁹ “Bei einer Influenzapandemie ist davon auszugehen, dass im Vergleich zur saisonalen Influenza sowohl die Erkrankungsrate [von alten Menschen] insgesamt als auch der Anteil schwerer Verläufe deutlich erhöht ist. Senioren zählen bei der saisonalen Influenza zu den so genannten Risikogruppen, *³⁰ bei denen in verstärktem Maße Komplikationen wie schwere Lungenentzündungen auftreten. Der enge Kontakt von Bewohnern und Betreuern in Gemeinschaftseinrichtungen wie Alten- und Altenpflegeheimen begünstigt zudem die Ausbreitung von Tröpfcheninfektionen wie der Influenza. *³¹ Zusätzlich erleichtert das Vorhandensein von invasiven Zugängen (z. B. Magensonden) die Entwicklung von Sekundärinfektionen und Komplikationen. *³² Es ist davon auszugehen, dass in einer Pandemie auch das Personal selbst verstärkt von krankheitsbedingten Ausfällen betroffen ist.” [S.55 oben]
1.3 Nochmal zweieinhalb Jahre vorwärts, Oktober 2019
Wir sind zwei Monate vor Beginn der Epidemie in China, und fünf Monate vor Ausrufung der Pandemie durch die WHO:
Die World Health Organization veröffentlicht die Übersicht ‘Non-pharmaceutical public health measures for mitigating the risk and impact of epidemic and pandemic influenza’ [PDF] mit Übersichtenanhang [PDF] [Quelle ³].
Auf deutsch die ‘Übersichts-Studie zu nicht-pharmazeutischen Maßnahmen der Öffentlichen Gesundheit zur Bekämpfung von Pandemien’.
Dort werden die Pandemie-Maßnahmen untersucht und bewertet, die derzeit auf der ganzen Welt angewendet werden, nach der Umsetzbarkeit der Maßnahme, d.h. Empfehlbarkeit aufgrund der Qualität der zugrundeliegenden Studie (Wissenschaftliche Evidenz).
Keine einzige Maßnahme kommt über eine moderate Qualität der Evidenz hinaus, die meisten rangieren zwischen keine -, sehr niedrige -, und niedrige Evidenz!
Einige der dort aufgeführten Kernaussagen sind:
- Nicht-pharmazeutische Interventionen sind die einzigen Maßnahmen gegen eine Virusepidemie, die immer und überall verfügbar sind *³³
- Gesichtsmasken haben laut mehrerer randomisierter Studien von hoher Qualität bestenfalls eine geringe Wirksamkeit *³⁴ und es fehlen nach wie vor Beweise, die den Zufall als Erklärung ausschließen können *⁴¹ — unter bestimmten Bedingungen können sie dennoch für kranke Personen empfohlen werden
- Schulschließungen können einen messbaren Einfluß haben, müssen dafür aber sehr gut geplant werden und zum richtigen Zeitpunkt erfolgen *³⁵
- Social Distancing kann sehr störend sein, die Nebenwirkungen müssen gegen den möglichen Nutzen abgewogen werden *³⁶
- Daher müssen die Schwere und die voraussichtlichen Folgen der Pandemie schnellstmöglich ermittelt werden *³⁷
- Gesundheitstest bei Grenzkontrollen werden mangels Belegen ihrer Wirksamkeit nicht empfohlen *³⁸
- Reisebeschränkungen haben allenfalls einen beschränkten zeitlichen Verzögerungseffekt *³⁹
- Grenzschließungen werden aus wirtschaftlich schwerwiegenden Gründen nicht in Erwägung gezogen *⁴⁰
Das klingt heute kaum noch vorstellbar ist aber Ende 2019 Stand der Wissenschaft.
Auch flatten-the curve wurde aktualisiert:
Im Folgenden wieder der Text zu den Kernaussagen. Anschließend Auszüge einer Tabelle aus dem Dokument.
Ich habe die Zitate übersetzt; den englischen Text führe ich wie schon oben nur soweit an, wie er zum Auffinden im Dokument erforderlich ist:
“Non-pharmaceutical … epidemic has started.” [S.1 oben]
*³³ “Nicht-pharmazeutische Interventionen (NPIs) sind die einzigen pandemischen Gegenmaßnahmen, die jederzeit und in allen Ländern verfügbar sind. Die möglichen Auswirkungen von NPI auf eine Influenza Epidemie oder -Pandemie bestehen darin, die Einschleppung des Pandemievirus in eine Bevölkerung zu verzögern. Sie verzögern die Höhe und den Scheitelpunkt der Epidemie.”“There have been a number … mitigation objectives” [S.2 mitte]
“Es gibt eine Reihe hochwertiger randomisierter kontrollierter Studien (RCTs =randomized controlled trials), die zeigten, *³⁴ dass persönliche Schutzmaßnahmen wie Händehygiene und Gesichtsmasken bestenfalls einen geringen Einfluss auf die Influenzaübertragung haben, obwohl eine höhere Befolgung bei einer schweren Pandemie die Wirksamkeit verbessern könnte. […] *³⁵ Schulschließungen können die Influenzaübertragung verringern, müssten jedoch sorgfältig geplant werden, um die Ziele der Übertragungsminderung zu erreichen.”“The most effective strategy … to reduce transmission.” [S.4 oben]
“Die effektivste Strategie zur Abschwächung der Auswirkungen einer Pandemie besteht darin, die Kontakte zwischen infizierten und nicht infizierten Personen zu verringern und dadurch die Ausbreitung der Infektion, den maximalen Bedarf an Krankenhausbetten sowie die Gesamtzahl der Infektionen, Krankenhausaufenthalte und Todesfälle zu verringern. *³⁶ Soziale Distanzierungsmaßnahmen (z. B. Kontaktverfolgung, Isolation, Quarantäne, Schul- und Arbeitsplatzmaßnahmen und -schließungen sowie Vermeidung von Überfüllung) können jedoch sehr störend sein, und die Folgen dieser Maßnahmen müssen gegen ihren möglichen Nutzen abgewogen werden. *³⁷ Frühzeitige Einschätzungen des Schweregrads und der wahrscheinlichen Auswirkungen der Pandemie werden den Gesundheitsbehörden helfen, den Umfang der Intervention zu bestimmen. […] Bei schwereren Pandemien würden Maßnahmen zur Erhöhung der sozialen Distanzierung in Schulen, am Arbeitsplatz und in öffentlichen Bereichen die Übertragung weiter verringern.”“There is also a lack of evidence … for ill persons” [S.4 mitte]
“Es fehlen nach wie vor Belege für die Wirksamkeit einer verbesserten Atemetikette und die Verwendung von Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit während Influenza-Epidemien und -Pandemien. Trotzdem können diese NPIs unter bestimmten Bedingungen für kranke Personen empfohlen werden.”“There is sufficient evidence … serious economic consequences.” [S.4 unten]
*³⁸ “Es gibt genügend Belege für die mangelnde Wirksamkeit des Ein- und Ausreise-Screenings, um zu rechtfertigen, dass diese Maßnahmen bei Influenzapandemien und Epidemien nicht empfohlen werden. *³⁹ Es gibt schwache Beweise, hauptsächlich aus Simulationsstudien, dass Reisebeschränkungen die Verbreitung von Infektionen nur für einen kurzen Zeitraum verzögern können, und diese Maßnahme kann die anderen Maßnahmen beeinflussen. […] *⁴⁰ Grenzschließungen dürften nur von kleinen isolierten Staaten bei schweren Pandemien und Epidemien in Betracht gezogen werden, müssen jedoch gegen potenziell schwerwiegende wirtschaftliche Folgen abgewogen werden.”“Ten relevant RCTs were identified … their effectiveness.” [S.26 oben]
“Für diese Übersicht und Meta-Studie wurden zehn relevante RCTs mit insgesamt mehr als 6000 Probanden identifiziert, um die Wirksamkeit von Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit zu bestimmen. […] *⁴¹ die Belege reichen nicht aus, um den Zufall als Erklärung für das verringerte Übertragungsrisiko auszuschließen.”
Ein großer Teil der Übersichtsstudie besteht aus tabellarischen Übersichten zu den Wirksamkeiten von Hygiene-Maßnahmen. Hier einige Auszüge davon:
[Die Bewertung der Aussagekraft der untersuchten Studien d.h. die Belastbarkeit der Ergebnisse (Evidenzqualität) ist angegeben mit:
none = keine
very low = sehr niedrig
low = niedrig
moderate = mittel
high = hoch (diese Evidenzgüte kommt jedoch nicht vor) ]
1.4 Die Zusammenfassung der Zusammenfassungen (tl;dr)
Die zusammengefassten Ergebnisse der Ausarbeitungen von ECDC, RKI und WHO nochmal zusammengefasst:
— Bitte beachten: wir reden hier über den Wissensstand Ende 2019! —
- Eine Pandemie erreicht Europa ca. ein bis drei Monate nach dem ersten Ausbruch in einem anderen Teil der Welt*¹
- Zu Beginn einer Epidemie gibt es keine zuverlässigen Informationen*²² über ihre Eigenschaften, Modellrechnungen sind aber mit Vorsicht zu genießen, denn sie beruhen auf Annahmen, nicht auf Wissen*⁴
- Die epidemiologischen Parameter müssen schnellstmöglich ermittelt werden*¹⁷, Fallzahlen und laborbestätigte Fälle gehören wegen erheblicher Untererfassung der Infektionszahlen aber nicht dazu*¹⁸
- Epidemien betreffen nie alle Orte gleichzeitig auf die gleiche Weise*¹⁰ und breiten sich in Europa typischerweise von West nach Ost und von Süd nach Nord aus*¹¹
- Die etwa drei Monate*² andauernde Krankheits-Welle verläuft regional*¹⁰ verschieden*²³ schwer*⁵ und lässt in ihrer Schwere im Laufe der Zeit auch nach*⁹
- Die Schwere und die voraussichtlichen Folgen der Pandemie müssen schnellstmöglich ermittelt werden*³⁷, um die Gegenmaßnahmen festzulegen*⁶
- Die Gegenmaßnahmen*³³ sollen das Gesundheitssystem vor Überlastung*¹⁵ schützen*²⁶, sie sind kontinuierlich*²⁴ an die sich ändernden*¹⁷ Eigenschaften der Pandemie*⁵ anzupassen, und auf ihre Nebenwirkungen zu überprüfen*⁸, die mit dem Nutzen der Maßnahmen abgewogen werden müssen*³⁶
- Es gibt immer noch mehr Nicht-Wissen als Wissen über Wirkungen der Maßnahmen*³
- Der Beleg für den Nutzen von Gesichtsmasken wurde von der Wissenschaft nicht erbracht*³⁴, der Zufall kann statistisch bei den in den Studien beobachteten Wirkungen nicht als Ursache ausgeschlossen werden*⁴¹, es ist darüber hinaus nach wie vor möglich, daß Masken die Infektionsraten sogar erhöhen*¹⁴
- Gesundheitstest bei Grenzkontrollen*³⁸, Reisebeschränkungen*³⁹ und Grenzschließungen*⁴⁰ sind nicht zu empfehlen
- Schulschließungen sind nur bei sehr guter Planung und zum richtigen Zeitpunkt bedingt sinnvoll*³⁵ und oft kontraproduktiv*¹²
- Die Schutzmaßnahmen werden auf die gefährdete Risikogruppen*⁷ konzentriert sowie zusätzlich auf das mit ihnen arbeitende Personal*²⁵, da hier leicht viele Ansteckungen erfolgen*³²
- Alte und kranke Menschen*²⁹ haben ein erhöhtes Risiko*²⁵ für zusätzliche Komplikationen wie Lungenentzündungen*³⁰ und schwere bis tödliche Krankheitsverläufe*²⁵ und sollten auf keinen Fall intubiert werden*³¹
- Für die Versorgung von Kranken sollten Schwerpunktkrankenhäuser festgelegt werden, um das Gesundheitswesen zu entlasten*²⁸
- Nach dem Höhepunkt der Krankheitswelle ist zu überprüfen, welche Maßnahmen fortgeführt werden sollen*²⁷
Das alles gibt Anlaß zur Hoffnung, auf den Fall einer Virus-Pandemie gut vorbereitet zu sein
Wir kommen zum Jahreswechsel 2019/2020
2. Das Wissen über Viren, Epidemien und Pandemien — und der Maßnahmen dagegen — in 2020
MÄRZ
Bis hierher sind wir, die Bevölkerung , kann man wohl sagen, recht ahnungslos, was da auf uns zukommt. In Asien gibt es eine Epidemie, hört man aus den Nachrichten. Hier in Hamburg sind Anfang März noch die Winterferien, alle fahren in die Berge, die kurz darauf in Risikogebiete umbenannt werden.
Das Robert Koch Institut veröffentlicht am 04. März die Ergänzung des Nationalen Pandemieplans [PDF]. Nicht, dass das zu dem Zeitpunkt irgendjemand bemerkt hätte. Schauen wir trotzdem hinein:
“Falls […] deutlich würde, dass die Verbreitung auf Dauer nicht zu vermeiden ist, wird die Bekämpfungsstrategie schrittweise angepasst. Dann konzentriert sich der Schutz stärker auf Personen und Gruppen, die ein erhöhtes Risiko für schwere Krankheitsverläufe aufweisen *⁴²” […]
Nimmt die Ausbreitung der Krankheit in der Bevölkerung zu, zielen die eingesetzten Schutzmaßnahmen stärker auf die Minderung weiterer Folgen. So sollen besonders schwere Krankheitsverläufe und Krankheitsspitzen mit einer Überlastung der Versorgungssysteme vermieden werden *⁴³. In dieser Situation stehen im Mittelpunkt weitere negative Auswirkungen auf die Gemeinschaft und das soziale Leben möglichst gering zu halten *⁴⁴. […]
Um den Anteil schwerer Krankheitsverläufe zu reduzieren, müssen vulnerable Personengruppen besonders geschützt werden *⁴⁵. […]
Solche Maßnahmen können nur gelingen, wenn durch aktives gesellschaftliches Engagement die psychische und physische Versorgung von in Absonderung befindlichen Personen gewährleistet wird.” [S.8]
“Für eine kontinuierliche differenzierte Risikoeinschätzung müssen virologische, epidemiologische und klinische Daten herangezogen werden *⁴⁶. […] Die Risikoeinschätzung dient vorrangig dazu, dass von den Entscheidungsträgern geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung eines bedeutsamen epidemischen Geschehens empfohlen werden können *⁴⁷. Bei der Risikoeinschätzung können drei grundlegende Kriterien herangezogen werden: das epidemische Potenzial / Übertragung des Erregers in der Bevölkerung, das epidemiologische (Schwere)-Profil von respiratorisch übertragbaren Erkrankungen und die Ressourcenbelastung im Gesundheitsversorgungssystem.” [S.15]
“Äußerst schwierig gestaltet sich derzeit die Bewertung der Gesamtschwere der Epidemie, bei der die drei Hauptkriterien 1. Übertragbarkeit, 2. Anteil klinisch schwerer bzw. tödlicher Krankheitsverläufe und 3. Auslastung und Kapazität des Gesundheitsversorgungssystems des jeweils betroffenen Landes berücksichtigt werden müssen *⁴⁷.” [S.17]
Es handelt es sich hier um eine Aktualisierung der Punkte, die Anfang März als besonders wichtig angesehen werden. Darüber hinaus besteht das Dokument hauptsächlich aus der Wiederholung von tabellarischen Übersichten des Hauptdokuments:
- Im Falle einer Ausbreitung der Epidemie wird der Schutz auf Personen mit hohem Risiko konzentriert *⁴² *⁴⁵
- Es gilt, besonders schwere Krankheitsverläufe und Krankheitsspitzen mit einer Überlastung der Gesundheitsversorgungssysteme zu vermeiden *⁴³
- ‘In dieser Situation stehen im Mittelpunkt weitere negative Auswirkungen auf die Gemeinschaft und das soziale Leben möglichst gering zu halten’ *⁴⁴
- Um den Anteil schwerer Krankheitsverläufe zu reduzieren, müssen vulnerable Personengruppen besonders geschützt werden (zum dritten Mal) *⁴⁵
- Für eine kontinuierliche differenzierte Risikoeinschätzung ist Kenntnis erforderlich über das epidemische Potenzial, das epidemiologische Profil und die Ressourcenbelastung im Gesundheitsversorgungssystem *⁴⁶
- Diese Risikoeinschätzung, die sich derzeit als äußerst schwierig gestaltet, soll den Entscheidungsträgern geeignete Maßnahmen an die Hand geben *⁴⁷
Am 17. März veröffentlicht der US-amerikanische Statistiker und Epidemiologe John P. A. Ioannidis von der Stanford University den viel beachteten und viel kritisierten Artikel ‘A fiasco in the making? As the coronavirus pandemic takes hold, we are making decisions without reliable data’. [Die Quellen ⁵ und ⁶ zitieren ihrerseits auch aus diesem Artikel] Er schreibt dort u.a.:
[Eigene Übersetzung:] “Die aktuelle Coronavirus-Krankheit Covid-19 wurde als Jahrhundert-Pandemie bezeichnet. Es kann sich aber auch um ein Jahrhundert-Fiasko der Evidenz handeln. […] Die bisher gesammelten Daten darüber, wie viele Menschen infiziert sind und wie sich die Epidemie entwickelt, sind absolut unzuverlässig. […] Wir wissen nicht, ob wir Infektionen um den Faktor drei oder 300 untererfassen. […]
Die gemeldeten Todesfälle, wie die offizielle Rate von 3,4% der WHO, verursachen Panik —dabei sind sie bedeutungslos. […]
Die wichtigste Information zur Pandemie wäre, die aktuelle Prävalenz der Infektionen durch eine Zufallsstichprobe zu erfassen und diese Erfassung in regelmäßigen Abständen zu wiederholen, um die Inzidenz neuer Infektionen abzuschätzen. Bedauerlicherweise sind dies Informationen, die wir nicht haben. […]
Mangels vorliegender Daten zur Pandemie führt die Argumentation ‘auf-das-Schlimmste-verbereitet-sein’ zu extremen Maßnahmen wie social distancing und Lockdown. Leider wissen wir nicht, ob und wie stark diese Maßnahmen funktionieren.”
Weiter ist sehr bemerkenswert, daß Ioannidis bereits Mitte März (!) in diesem Artikel anhand der Corona-Fälle auf dem Kreuzfahrtschiff Diamond Princess mit einer IFR [=Infection-Fatality-Ratio=] Infektionssterblichkeit von 0,99% die statistisch bereinigte IFR ganzer Bevölkerungen innerhalb der Bandbreite von 0,025% bis 0,625% angibt. Sechs Wochen später kommt weltweit mit als erstes die Heinsberg-Studie auf den Wert 0,37%.
Der Wert ist nicht mit der etwa 10-mal höheren CFR [=Case-Fatality-Ratio = Fallsterblichkeit] zu verwechseln, welche laut WHO lange mit 3,4% und welche laut RKI aktuell mit 3,8% angegeben wird bzw. wurde. Dazu unten mehr.
Am 25. März veröffentlichen die Charité — Universitätsmedizin Berlin und das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft den Aufruf: Nationale Taskforce „COVID-19-Evidenz“:
Dort wird — angesichts des Veröffentlichungsdatums: sehr vorausschauend — gefordert:
“Es bedarf einer möglichst schnellen und professionellen Klärung dazu, ob die in Kraft gesetzten Nicht-Pharmakologischen Interventionen (NPI) wie Schulschließungen und Kontaktrestriktion die erwünschte Wirksamkeit zeigen und zugleich die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen rechtfertigen *⁴⁸. […]
Die Bewertung der Verhältnismäßigkeit von Nutzen und Schaden von NPIs verlangt zwei Schritte. Erstens, die Auswahl der relevantesten und verlässlichsten Daten (Evidenz) zur Wirksamkeit und zum Schaden der NPI. Zweitens, eine (Güter-) Abwägung dieser äußert komplexen und allesamt existenziell bedeutsamen Informationen. […] Es soll die Aufgabe einer interdisziplinär besetzten Taskforce sein, die Forschung zu definieren, die benötigt wird, um die Wirksamkeit und den Schaden der NPI bestmöglich bewerten zu können *⁴⁹.
Zusätzlich zu den kontinuierlich aktualisierten Zahlen für bestätigte Infektionen und Todesfälle könnten Kohortenstudien zur Untersuchung der bevölkerungsweiten Infektionsrate auch in symptomfreien Personen hilfreich sein *⁵⁰. Sollte bereits der Großteil der deutschen Bevölkerung infiziert sein, sind NPI wie Schulschließungen oder Kontaktrestriktionen nur von begrenzter Wirksamkeit *⁵¹. Zugleich liefern diese Kohortenstudien Daten dazu, wie wirksam die NPI über die Zeit sind und wann ein guter Zeitpunkt ist, sie zu beenden *⁵². Des Weiteren müssen die unerwünschten aber unvermeidbaren gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen der NPI untersucht werden *⁵³. […]
Ethische Herausforderungen ergeben sich zudem bei der Güterabwägung auf der Basis der relevanten Daten. Wie sind die zu erwartenden positiven Effekte von NPI abzuwägen mit den negativen Effekten? *⁵⁴ Die Abwägungen sind unvermeidbar mit Werturteilen verbunden. Diese Werturteile werden aber umso objektiver und nachvollziehbarer je besser sie sich auf relevante und verlässliche Daten zum Ausmaß der positiven und negativen Effekte beziehen können.”
‘Der Spiegel’ führt am 31. März ein Interview mit Prof. Gerd Antes, Universität Freiburg, einen der Mitbegründer des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin:
SPIEGEL: Herr Antes, Sie gelten als der Medizinstatistik-Experte in Deutschland. Wie gefährlich ist das Coronavirus aus Ihrer Sicht?
Antes: Wenn ich das wüsste. Auf der einen Seite sehe ich die Zahlen, bei denen es sehr viele Unsicherheiten gibt. Auf der anderen Seite sehe ich die menschliche Katastrophe, gerade dort, wo das Gesundheitssystem nicht mehr in der Lage ist, alle Kranken zu versorgen, etwa in Norditalien oder im französischen Elsass. […Wir wissen] nicht, wie tödlich das neue Coronavirus im Vergleich zur Grippe ist und wie viel schneller genau es sich ausbreitet. […] Wir werden daher erst in ungefähr acht Monaten in der jährlichen Todesstatistik sehen, wie viele Menschen durch das Coronavirus in diesem Jahr zusätzlich gestorben sind. Die Zahlen, die es derzeit dazu gibt, sind vollkommen unzuverlässig *⁵⁵. […]
SPIEGEL: Die deutschen Behörden geben an, bereits sehr viel zu testen und die Kapazitäten noch ausweiten zu wollen. Wird das helfen?
Antes: Große Testreihen erlauben einen besseren Überblick. Allerdings kann man die Zahlen dann nicht mehr mit den derzeit nachgewiesenen Fällen vergleichen. Wenn in Deutschland plötzlich viel mehr getestet wird, findet man zwangsläufig auch mehr Infizierte *⁵⁶. Ob sich wirklich mehr Menschen angesteckt haben, weiß man dann aber nicht. […] Wie viele Personen […] infiziert sind, ist daher unklar und wird es bei dieser Art zu testen auch bleiben *⁵⁷.
SPIEGEL: Was ist die Alternative?
Antes: Wir müssen sehr regelmäßig, vielleicht jede Woche, einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt auf Infektionen untersuchen […] um eine solide Entscheidungsgrundlage zu schaffen *⁵⁸. Aus […] einer solchen Stichprobe lassen sich genaue Rückschlüsse auf die Gesamtsituation ziehen. […] Je mehr durchgemachte Infektionen nachgewiesen werden, desto besser. Denn jeder unbemerkte Fall lässt den Anteil der schweren Erkrankungen unter allen Infizierten schrumpfen. Die Angst machenden Zahlen sind also eine positive Botschaft.”
2.1 Die neuen Erkenntnisse und der Wissensstand im März 2020:
- Um schwere Krankheitsverläufe *⁴⁵ und eine Überlastung der Gesundheitssystems zu vermeiden *⁴³, konzentriert sich der Schutz auf Risikogruppen *⁴².
- Übermäßige negative Auswirkungen auf Gemeinschaft und das soziale Leben sollen vermieden werden *⁴⁴.
- Für eine Risikoeinschätzung *⁴⁶, die der Politik belastbare Empfehlungen *⁴⁷ geben kann, werden virologische, epidemiologische und klinische Daten *⁴⁶ benötigt.
- Es ist dringend zu klären, ob die Schulschließungen und Kontaktverbote wirksam sind und die erheblichen Nebenwirkungen rechtfertigen *⁴⁸-⁵³.
- Um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu überprüfen, ist die Auswahl der richtigen Daten und die dafür erforderliche Forschung notwendig *⁴⁹.
- Zu dieser Forschung gehören unverzichtbar Kohortenstudien zur Untersuchung der bevölkerungsweiten Infektionsrate *⁵⁰, die auch Auskunft geben über die Wirksamkeit der Maßnahmen und gute Zeitpunkte, diese zu beenden *⁵².
- Sollte bereits ein nenneswerter Teil der Bevölkerung infiziert sein, sind die Maßnahmen von eingeschränkter Wirkung *⁵¹.
- Entscheidungskriterien sind zu finden, um die positiven Effekte der NPI mit den negativen abzuwägen *⁵⁴.
- Die vorliegenden Zahlen sind aufgrund der Art zu testen unbrauchbar *⁵⁵, da die Infiziertenzahl von der Testanzahl abhängt *⁵⁶, während die wahre Zahl unbekannt bleibt *⁵⁷, solange es keine repräsentativen Testungen gibt *⁵⁸.
Das alles gibt Anlaß zur Hoffnung, für diese Virus-Pandemie eigentlich ganz gut vorbereitet zu sein
APRIL
Das Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft — IMVR der Universität Köln veröffentlicht zusammen
mit u.a. Prof. Püschel vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf am 05. April ein erstes Thesenpapier 1.0 zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 [PDF, Quelle ⁶-¹].
Der Artikel ist zu großen Teilen auch online zugänglich beim Monitor Versorgungsforschung und wurde in der gleichnamigen Fachzeitschrift veröffentlicht. [Die Seitenangaben beziehen sich hier und bei den weiteren Quellen auf die reine Fassung als Thesenpapier, nicht auf den inhaltlich identischen Artikel in der Fachzeitschrift]
“Eine sinnvolle Beratung der politischen Entscheidungsträger muss mehrere wissenschaftliche Fachdisziplinen umfassen, wobei [Virologie,] Infektiologie, Intensivmedizin und die Pflege ganz im Vordergrund stehen[.] Da eine Epidemie jedoch nie allein ein medizinisch-pflegerisches Problem darstellt, sondern immer auf die aktuelle Verfasstheit der gesamten Gesellschaft einwirkt und auch nur […] gesamtgesellschaftlich[…] zu bewältigen ist, erscheint zusätzlich eine Mitwirkung von Vertretern der Sozialwissenschaften, Public Health, Ethik, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft unverzichtbar *⁵⁹.” […]
“Eine Infektion durch asymptomatische Virusträger ist […] epidemiologisch höchst relevant *⁶⁰. […]
Zur Diagnose dient der Nachweis von genetischem Material durch die PCR-Reaktion, welche jedoch nicht zwangsläufig eine gegebene Infektiosität bedeutet *⁶¹. […]Die zur Verfügung stehenden epidemiologischen Daten (gemeldete Infektionen, Letalität) sind nicht hinreichend, die Ausbreitung und das Ausbreitungsmuster der SARS-CoV-2/Covid-19-Pandemie zu beschreiben, und können daher nur eingeschränkt zur Absicherung weitreichender Entscheidungen dienen *⁶².” [S.4]
“[Bei der] anlassbezogenen Teststrategie ist es nicht sinnvoll, von einer sog. Verdopplungszeit zu sprechen und von dieser Maßzahl politische Entscheidungen abhängig zu machen *⁶². […] Die Zahl der gemeldeten Fälle an Tag X stellt keine Aussage über die Situation an diesem Tag dar, sondern bezieht sich auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit. […]
Die Zahlen zur Sterblichkeit (Case Fatality Rate) überschätzen derzeit das Problem und können nicht valide interpretiert werden *⁶³. […]
SARS-CoV-2/Covid-19 stellt keine homogene, eine ganze Bevölkerung einheitlich betreffende Epidemie dar, sondern breitet sich inhomogen über lokal begrenzte Cluster aus, die in Lokalisierung und Ausdehnung nicht vorhersehbar sind (komplexes System) *⁶⁴.” [S.5]
“Die allgemeinen Präventionsmaßnahmen (z.B. social distancing) sind theoretisch schlecht abgesichert *⁶⁵, ihre Wirksamkeit ist beschränkt und zudem paradox: je wirksamer, desto größer ist die Gefahr einer „zweiten Welle“ *⁶⁶ und sie sind hinsichtlich ihrer Kollateralschäden nicht effizient *⁶⁷. Analog zu anderen Epidemien (z.B. HIV) müssen sie daher ergänzt und allmählich ersetzt werden durch Zielgruppen-orientierte Maßnahmen, die sich auf die vier Risikogruppen hohes Alter, Multimorbidität, institutioneller Kontakt und Zugehörigkeit zu einem lokalen Cluster beziehen *⁶⁸.
Entstehung und Bekämpfung einer Pandemie sind in gesellschaftliche Prozesse eingebettet. […] Demokratische Grundsätze und Bürgerrechte dürfen nicht gegen Gesundheit ausgespielt werden *⁶⁹.” [S.6]
“[…] erneut wird die Alternativlosigkeit des exekutiven Handelns dem demokratischen Diskurs gegenübergestellt *⁶⁹.” [S.7]
“[Die] Interaktion zwischen Politik und Wissenschaft ist zur Bewältigung einer solchen Krise wünschenswert, stellt für beide Seiten jedoch nur dann ein sinnvolles Vorgehen dar, wenn die Breite der relevanten wissenschaftlichen Ansätze und fachlichen Expertisen zutreffend abgebildet wird und unterschiedliche Perspektiven zu Wort kommen *⁶⁹. […] Wenngleich die Bewältigung der Pandemie das prioritäre Ziel darstellt, darf last not least nicht aus dem Blick geraten, dass alle Maßnahmen gleichermaßen daran zu messen sind, ob sie das Fortbestehen der gesellschaftlichen Werte und Lebensbedingungen garantieren und fördern *⁷⁰.” [S.8]
“Die Letalität der beatmeten Patienten ist hoch *⁷¹. […] das größte Risiko besteht für Patienten über 80 Jahre mit Mehrfach-Komorbiditäten *⁷². […] Die PCR weist genetisches Material des Virus nach, dieser Nachweis ist jedoch nicht identisch mit einer Infektiosität *⁷³.” [S.9]
“Die Darstellung in exponentiell ansteigenden Kurven der kumulativen Häufigkeit führt zu einer überzeichneten Wahrnehmung *⁷⁴. Die kumulative Darstellung der täglich neu diagnostizierten Fälle erweckt den Eindruck eines katastrophalen Anstiegs *⁷⁵ und sollte daher durch eine Darstellung ersetzt werden, die den Neuinfektionen die Gesamtzahl der Asymptomatischen und genesenen Patienten an die Seite stellt *⁷⁶, denn dadurch wird klargestellt, dass die meisten (Schätzwert 98%) der Infizierten keine bleibenden Schäden davontragen *⁷⁷.” [S.10]
“[…] populationsbezogenen Stichproben (Nationale Covid-19- Kohorte) […] ist zum Zwecke der verbesserten Steuerung der Präventionsmaßnahmen größte Priorität zuzuweisen *⁷⁸. […] Es darf nicht vergessen werden: die erschreckenden Zahlen zum Anstieg der Infizierten werden deutlich relativiert, wenn man die Zahl der Patienten bzw. Personen abrechnet, die die Infektion ohne oder mit beherrschbaren Krankheitszeichen überstanden haben *⁷⁹.” [S.12]
“Angaben zur Letalität einer Erkrankung (Case Fatality Rate) spielen bei der Beurteilung einer Epidemie wie SARS-CoV-2/Covid-19 eine entscheidende Rolle *⁸⁰. Die Letalität kann als Kennziffer jedoch nur dann sinnvoll verwendet werden, wenn mehrere Bedingungen erfüllt sind: die Grundgesamtheit der Population, auf die die Zahl der Gestorbenen bezogen wird, muss bekannt sein *⁸¹; die Sterblichkeit, die auf die Erkrankung zurückgeht, muss von der Sterblichkeit durch den natürlichen Verlauf und andere Erkrankungen abgegrenzt werden (zurechenbare Sterblichkeit oder attributable mortality) *⁸²; die Sterblichkeit der Erkrankung sollte im historischen Vergleich eine zusätzliche Sterblichkeit (excess mortality) zur Folge haben, gerade wenn in den Vergleichszeiträumen die betreffende Erkrankung noch nicht bekannt oder diagnostizierbar war. Bei saisonalen Erkrankungen ist der jahreszeitliche Vergleich sinnvoll […] Es ist derzeit nicht bekannt, auf wie viel infizierte Personen die Zahl der gestorbenen Patienten zu beziehen ist *⁸³.” [S.13]
“Es ist nicht klar, inwieweit die beobachtete Letalität auf die Infektion mit SARS-CoV-2 zurückzuführen ist.[…] Dies bedeutet, dass keine Kriterien vorhanden sind, mittels derer die unkorrigierte crude mortality von der zurechenbaren Sterblichkeit (attributable mortality) unterschieden werden kann *⁸⁴.” [S.14]
“Für die nähere Zukunft ist es daher unumgänglich, zu einer Definition der attributable mortality zu kommen *⁸⁵[…]
Es wird zwar viel von den teilweise unhaltbaren Zuständen in den Institutionen (vor allem unter dem Aspekt der fehlenden Schutzausrüstung) und auch von Übertragungen zwischen Patienten und von Mitarbeitern berichtet, aber es fehlt die letztlich definitive Aussage, dass es sich bei dieser Pandemie um eine zumindest in Teilen nosokomiale Infektion handelt, bei der den Institutionen des Gesundheits- und Pflegesystems eine zentrale Bedeutung in Ausbreitung und Dynamik zukommt *⁸⁶.” [S.15]
“Fehlendes Personal, fehlende Schutzmaterialien und unzureichende Testungsmöglichkeiten erschweren maßgeblich die Aufrechterhaltung einer adäquaten Sorgfalt im Versorgungsprozess. Isolierungsmaßnahmen in Pflegeheimen im Kontext mangelhafter Schutzmaterialien und bei zu geringer personeller Besetzungen sind kritisch zu bewerten *⁸⁷. […]
Epidemien sind komplexe Ereignisse und rufen durch ihr sprunghaftes, unvorhersehbares Auftreten bei allen Beteiligten größte Befürchtungen hervor *⁸⁸[…]. Es wird in der gegenwärtigen SARS-CoV- 2/Covid-19-Epidemie immer wieder zu unerwarteten, mitunter katastrophal anmutenden Einzelentwicklungen kommen *⁸⁹. […]
[Man darf] bei der Evaluation der Präventionsstrategien nicht von einem linearen Wirkungsprinzip ausgehen und sich der Illusion hingeben, solche komplexen Ereignisse seien in einer einfachen actio-reactio-Logik positiv zu beeinflussen. Stattdessen lehrt die Komplexitätstheorie, dass eindimensionale Interventionen eher unvorhersehbare paradoxe Konsequenzen zur Folge haben *⁹⁰.” [S.16]
“In den europäischen Staaten mit strengen Regelungen bzgl. des shutdowns ist jedoch auch nach mehrwöchigem Einsatz wie z.B. in Italien (seit 8.3.2020) keine eingreifende Verbesserung der Situation in Sicht (wenn man von einer leichten Abflachung absieht), weder gemessen an den gemeldeten Infektionszahlen noch gemessen an der Mortalität *⁹¹. […]
So lässt sich insbesondere nicht ablesen, dass es mit stärkerer Einschränkung bis hin zum shutdown zu einer deutlicher verzögerten Ausbreitung käme, als wenn man „nur“ niedriggradigere Empfehlungen z.B. zum social distancing gibt *⁹². Insbesondere der Schutz der Risikogruppen (v.a. hohes Alter und Multimorbidität) wird durch die allgemeinen, unspezifischen Präventionsmaßnahmen nicht verwirklicht *⁹³, sondern im Gegenteil ist eine Gefährdung dieser Gruppen durch die eingeschränkte Wirksamkeit dieser Maßnahmen nicht ausgeschlossen. […]
Falls man jedoch trotz der o.g. Einschränkungen von einer Wirksamkeit der verschiedenen containment-Strategien ausgeht, treten große Schwierigkeiten dahingehend auf, dass man das entsprechende Vorgehen zeitlich nicht zu limitieren weiß *⁹⁴. Um so wirksamer das „Abflachen der Kurve“ ist, um so wahrscheinlicher ist das Auftreten neuer Wellen nach Lockerung der Maßnahmen *⁹⁵ […].” [S.19]
“[…] bei Präventionsmaßnahmen, vor allem wenn sie in das soziale und politische Leben einer Gesellschaft tief eingreifen, muss der zu erwartende Nutzen gegen die möglichen negativen Folgen abgewogen werden *⁹⁶ […]
Die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit muss daher fortlaufend erfolgen […]. *⁹⁷ Weiterhin sind normative Grenzen in der rechtsstaatlichen Verfasstheit zu beachten. […]
Das derzeitige Vorgehen ist als isolierte Maßnahme theoretisch nicht ausreichend begründet, denn es handelt sich […] bei Covid-19 nicht um eine Epidemie, die alle Bevölkerungsteile gleichermaßen betrifft, sondern um eine Epidemie mit relativ genau benennbaren Risikogruppen
• hohes Alter,
• Komorbidität,
• nosokomiales Risiko und
• Kontakt zu lokalen Clustern *⁹⁸.” [S.20]“[Es ist] nicht nachvollziehbar, warum sich Kinder und Personen jüngeren Alters nicht frei bewegen können, zumindest solange sie ältere Personen oder solche mit Prädispositionen nicht kontaktieren. Dies gilt umso mehr, als dass sich diese Gruppe im Verlauf der Epidemie aller Wahrscheinlichkeit nach in jedem Fall anstecken wird (aber nicht bzw. nur selten erkrankt) *⁹⁹. Vor allem aber ist der Punkt hervorzuheben, dass komplexe Systeme auf eine eindimensionale Maßnahme bzw. eine Maßnahme, die nur auf einer Ebene eingreift, nicht reagieren *¹⁰⁰.” [S.21]
“Unter der Voraussetzung, dass die […] spezifischen Präventionsmaßnahmen implementiert sind, kann eine gezielte Öffnung der allgemeinen, unspezifischen Präventionsmaßnahmen erfolgen *¹⁰¹. Obwohl das Infektions- und Morbiditätsrisiko der jüngeren Bevölkerungsanteile nicht zu vernachlässigen ist, darf und muss in der gegenwärtigen Situation dieses Risiko gegenüber dem mit den jetzigen Maßnahmen nicht herstellbaren Schutz der älteren Bevölkerung mit ihrem weitaus höheren Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko und den massiven gesellschaftlichen Folgewirkungen abgewogen werden *¹⁰².” [S.22]
“In Zeiten einer Epidemie sind die rechtlichen Grundlagen der Gesellschaft nicht außer Kraft gesetzt, sondern können lediglich eine dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechende, zeitlich begrenzte Relativierung erfahren *¹⁰³. Die Auseinandersetzung um die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes mit Schwerpunkt §5 hat jedoch gezeigt, dass dieser Aspekt derzeit nicht adäquat gewichtet wird, denn hier wird dem Bundesgesundheitsminister eine fast uneingeschränkte Verfügungsgewalt über staatliche Organe und die Einschränkungen der Bürgerrechte zugesprochen, die auf dem Verordnungswege ausgeübt werden kann *¹⁰⁴.” [S.24]
“[…] zum einen darf der Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse nicht den politischen Charakter konfliktärer Entscheidungssituationen und die Verantwortung für ihre demokratischen Absicherung abschwächen oder in Frage stellen. […] Zum anderen kann, insbesondere bei selektiver oder auf Bestätigung ausgerichteter Beratungsnachfrage, die Wissenschaft ihr auf Multidimensionalität beruhendes Gleichgewicht verlieren und insofern Schaden nehmen *¹⁰⁵.” [S.25]
Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin veröffentlicht am 15. April eine Stellungnahme [Quelle ⁵ — Ende August ist ein Update angekündigt, ggfs. folgt hier eine Aktualisierung]:
Sicher ist, dass die simple Division der Anzahl der Todesfälle durch die nachgewiesenen Erkrankungen zu einer substantiellen Überschätzung der sogenannten „Case Fatality Rate“ (CFR) führt *¹⁰⁶. [=die vom RKI ermittelte Sterblichkeit…] Zu einer Überschätzung der CFR kommt es auch, wenn bei Verstorbenen eine Infektion mit SARS-CoV-2 zwar nachgewiesen wird, diese jedoch nicht den Tod herbeigeführt hat *¹⁰⁷. […]
Was allerdings mit großer Zuverlässigkeit gesagt werden kann, ist, dass die Todesfälle in erster Linie ältere, vor allem hochbetagte Menschen mit vor allem kardiovaskulären [=Herz- & Kreislauf] und pulmonalen [=Lungen] Vorerkrankungen betreffen *¹⁰⁸. […]
Auch Begleiterkrankungen [(Anm.:) die den Krankheitsverlauf beeinflussen] stellen einen wesentlichen Risikofaktor dar *¹⁰⁹. […]
[Es gibt] wenig Evidenz, dass NPIs [=Nicht-pharmazutische Interventionen =die Corona-Maßnahmen] bei COVID-19 tatsächlich zu einer Verringerung der Gesamtmortalität führen *¹¹⁰. Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2011 fand keine belastbare Evidenz für die Effektivität von Screening bei Grenzkontrollen oder Social Distancing, allerdings in erster Linie aufgrund fehlender Studien und mangelhafter Studienqualität. […]
Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2015 findet moderate Evidenz für Schulschließungen, um die Ausbreitung einer Influenza-Epidemie zu verzögern, allerdings verbunden mit hohen Kosten *¹¹¹. Isolation im Haushalt verlangsamt zwar die Ausbreitung, führt aber zu vermehrter Infektion von Familienangehörigen *¹¹². Ein aktueller Cochrane-Rapid-Review findet nur sehr limitierte Evidenz […] dass Quarantänemaßnahmen effektiv sind, CoViD-19-Todesfälle zu verhindern. Bei all diesen Erkenntnissen stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit von Influenza, SARS-1 oder MERS auf COVID-19. So mag beispielsweise bezweifelt werden, dass Schulschließungen effektiv sind, wenn weniger als 2% der bisher gemessenen Infektionen Schulkinder betreffen *¹¹³. Leider wurde es aber versäumt, vor der landesweiten Schulschließung entsprechende repräsentative Messungen vorzunehmen *¹¹⁴. […]
Es ist gänzlich unklar, wie lange die NPIs aufrechterhalten werden müssen und welche Effekte in Abhängigkeit von Zeit und Intensität damit erzielt werden können. Möglicherweise wird die Zahl der Toten nur auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, ohne dass sich an der Gesamtzahl etwas ändert *¹¹⁵. Im Gegensatz zur saisonal verlaufenden Grippe wissen wir nicht, wie sich SARS-CoV-2 weiter verhalten wird. […] Ob auch das beginnende Frühjahr auf der Nordhalbkugel zu einer natürlichen Verlangsamung der Ausbreitung beiträgt, ist unbekannt *¹¹⁶. […]
Sollte die Ausbreitung tatsächlich nur aufgrund der NPIs zurückgehen, so ist mit einem erneuten Anstieg zu rechnen, sobald diese gelockert werden *¹¹⁷. So wird in einer Modellrechnung der Arbeitsgruppe COVID-19 am Imperial College prognostiziert, dass die Durchführung radikaler NPIs zu einer zweiten, ebenso gravierenden Pandemiewelle im Herbst 2020 führen könnte […]
Andererseits haben die derzeit ergriffenen NPIs massive Auswirkungen, die weit über den wirtschaftlichen Einbruch hinausgehen *¹¹⁸ […]
Mit jedem Prozentpunkt der Arbeitslosenquote sinkt die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen um einen Monat und für Männer um drei Monate. Arbeitslose weisen insgesamt eine höhere Mortalität, eine höhere Morbidität, eine höhere Suizidrate und eine schlechtere Lebensqualität auf *¹¹⁹. […]
Die mediale Berichterstattung berücksichtigt jedoch in keiner Weise die von uns geforderten Kriterien einer evidenzbasierten Risikokommunikation *¹²⁰. […]
Die Nennung von Fällen ohne Bezugsgrößen ist irreführend *¹²¹. […] Die Angaben [müssten] sich jeweils auf 100.000 Einwohner beziehen. […]
Auch werden keine zeitlichen Bezugsgrößen genannt *¹²². […] Die Nennung von Rohdaten ohne Bezug zu anderen Todesursachen führt zur Überschätzung des Risikos *¹²³.[…]
Der bekannte Epidemiologe John Ioannidis weist darauf hin, dass Coronaviren als typische Erreger von Erkältungskrankheiten jedes Jahr für Millionen von Infektionen verantwortlich sind und diese banalen Erkältungskrankheiten bei bis zu 8% älterer, multimorbider Menschen mit Komplikationen wie Pneumonien tödlich enden. Der einzige Unterschied zu SARS-CoV-2 könnte sein, dass wir Corona-Virus Infektionsraten bisher nie in der Bevölkerung gemessen haben. […]
Es ist weitgehend unklar, inwieweit sich die NPIs tatsächlich auf den Verlauf der Epidemie auswirken *¹²⁴. […] Wird es in regelmäßigen Abständen erforderlich sein, erneut drastische NPIs einzusetzen *¹²⁵, und welche psychosozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen wird das haben? […]
Es gibt insgesamt noch sehr wenig belastbare Evidenz, weder zu COVID-19 selbst noch zur Effektivität der derzeit ergriffenen Maßnahmen. Es ist nicht auszuschließen, dass die COVID-19 Pandemie eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt, und NPIs — trotz weitgehend fehlender Evidenz — das einzige sind, was getan werden kann. Es ist aber ebenso möglich, dass durch die derzeit durchgeführten NPIs viel größerer Schaden angerichtet wird als durch die Epidemie selbst *¹²⁶. […]
Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin veröffentlicht am 20. April eine Stellungnahme:
“Kinder und Jugendliche wurden in den bisherigen Entscheidungsprozessen nicht als Personen mit ebenbürtigen Rechten gesehen, sondern als potentielle Virusträger *¹²⁷. Sie wurden in ihren Lebenswelten massiv eingeschränkt, nicht zum eigenen sondern zum Schutz Anderer. Die Betrachtung von Kindern nicht aus ihrer eigenen Perspektive sondern als „Mittel zum Zweck“ widerspricht ihrer persönlichen Würde *¹²⁸.
[… Es ist weiter] unklar, ob die Schließung von Kindergärten und Schulen bedeutsam für die erfolgreiche Strategie war. […] In Deutschland entfallen bislang ca. 3 % aller registrierten Infektionen auf Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre. Deren Bevölkerungsanteil macht jedoch 13 % aus. Ursachen der Diskrepanz sind nicht bekannt *¹²⁹. […] Vergleichbar geringe Infektionsraten von Kindern sind aus anderen Coronavirus Epidemien wie SARS oder MERS bekannt. […] Erste Fallstudien zeigen, dass eher Erwachsene Kinder anstecken als umgekehrt. Es bleibt daher unklar, wie wichtig Kinder für die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung sind; die bisherigen Daten legen nahe, dass sie bislang für das Voranschreiten der Pandemie eine untergeordnete Rolle spielen *¹³⁰. […] Schließlich ist unklar, wie lange die Beschränkungen […] aufrechterhalten werden müssen, möglicherweise über viele Monate, […]. Das ist eine für die kindliche Entwicklung zu lange und zu wichtige Zeitdauer. […] Es ist zunächst dringend wissenschaftlich zu klären, ob Kinder und Jugendliche überhaupt epidemiologisch relevante Überträger des Virus sind *¹³¹.”
2.2 Die neuen Erkenntnisse und der Wissensstand im April 2020:
- Die Epidemie ist nur in einer gemeinsamen Anstrengung von Virologie, Infektiologie, Intensivmedizin, Pflege, Ethik, Ökonomie, sowie den Sozial-, Politik- und Rechtswissenschaften gut zu bewältigen *⁵⁹.
- Der PCR-Test weist Viren-Genome nach, jedoch keine Infektiosität *⁶¹-⁷³.
- Die vom RKI kumulativ *⁷⁴ veröffentlichten Fallzahlen sowie die Verdoppelungszeit *⁶³ derselben, sind ungeeignet den Epidemie-Verlauf zu beschreiben *⁶², und/oder Maßnahmen zu begründen, da sie die Gefährlichkeit des Virus stark überhöht *⁷⁵ darstellen *⁶⁴.
- Kriterien einer evidenzbasierten Risikokommunikation werden vom RKI ignoriert *¹²⁰.
- Die angeordneten Maßnahmen sind wissenschaftlich nicht abgesichert, *⁶⁵ ineffizient *⁶⁷, und haben die paradoxe Eigenschaft: je erfolgreicher sie sind, desto länger sind sie notwendig *⁶⁶. Daher müssen sie von zielgenauen Maßnahmen abgelöst werden *⁶⁷.
- Die Gesundheit darf nicht wegen behaupteter “Alternativlosigkeit” gegen Grundrechte ausgespielt werden *⁶⁹, denn die Corona-Maßnahmen sind daran zu messen, ob sie das Fortbestehen der gesellschaftlichen Werte und Lebensbedingungen garantieren *⁷⁰.
- Das größte Risiko besteht für Patienten über 80 Jahre *¹⁰⁸ mit Mehrfach-Komorbiditäten *⁷²-¹⁰⁹, im Falle einer Beatmung ist die Letalität besonders hoch *⁷¹. Ca. 98% der Infizierten tragen keine bleibenden Schäden davon *⁷⁷-⁷⁹.
- Bei der Beurteilung der Epidemie spielt die Letalität eine entscheidende Rolle *⁸⁰, jedoch müssen die Bezuggrößen *¹²¹-¹²² bekannt sein *⁸¹, wie die zurechenbare Sterblichkeit (der Unterschied “an” oder “mit” Corona gestorben zu sein) *⁸²-¹⁰⁷. Beides ist derzeit nicht der Fall *⁸³-⁸⁴ wodurch die Gefahr überschätzt wird *¹⁰⁶.
- Daher ist es erforderlich, Kriterien für die zurechenbare Sterblichkeit zu definieren *⁸⁵ sowie Obduktionen durchzuführen *¹⁰⁷.
- Die Epidemie findet zu großen Teilen im Gesundheits- und Pflegesystem statt *⁸⁶, hier war zu Beginn die fehlende Schutzausrüstung des Personals katastrophal *⁸⁷.
- Epidemien sind komplexe Systeme und rufen durch ihr immanent unvorhersehbares und sprunghaftes Auftreten *⁸⁸ mit katastrophal anmutenden lokalen Einzelentwicklungen *⁸⁹ größte Befürchtungen hervor *⁸⁸.
- Dies liegt auch an der Nichtbeeinflußbarkeit *¹⁰⁰ durch eindimensionale Maßnahmen mit einfachen Ursache-Wirkung-Prinzip *⁹⁰, was daran zu erkennen ist, daß der Lockdown keine eingreifende Verbesserung der Situation bewirkt hat *⁹¹ und auch keine Abhängigkeit von der Intnsität der Maßnahmen erkennbar ist *⁹². Gleichzeitig ist eine mögliche jahreszeitliche Schwankung noch unbekannt *¹¹⁶.
- Der Schutz der Risikogruppen *⁹³, mit ihrem weitaus höheren Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko *¹⁰², die relativ genau benennbar sind (• hohes Alter, • Komorbidität, • nosokomiales Risiko und • Kontakt zu lokalen Clustern) *⁹⁸. ist durch die allgemeinen, unspezifischen Präventionsmaßnahmen nicht herstellbar *¹⁰².
- Dies ist ein Grund mehr, die Maßnahmen, die so weit in das soziale und politische Leben einer Gesellschaft eingreifen, gegen die negativen Folgen abzuwägen *⁹⁶ und die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit fortlaufend zu wiederholen *⁹⁷, da Grundrechte können nur eine zeitlich begrenzte Aussetzung erfahren dürfen *¹⁰³.
- Diese Beschränkung anhand der Verhältnismäßigkeit wird im IfSG nicht adäquat berücksichtigt, *¹⁰⁴ da die Einschränkungen auf dem Weg der Verordnungen erlassen werden *¹⁰⁵.
- Es gibt keine Belege, ob die Corona-Maßnahmen zu einer Verringerung der Gesamtmortalität führen *¹¹⁰, oder ob die Zahl der Toten nur auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wird *¹¹⁵.
- Sollte die Epidemie tatsächlich aufgrund der NPI zurückgehen, ist bei Lockerungen *⁹⁵ zwangsläufig mit einem erneuten Anstieg zu rechnen *¹¹⁷, dann wäre die Frage, ob diese, trotz der immensen *¹¹⁹ Schäden *¹¹⁸, die über die Schäden durch den Virus weit hinausgehen können, *¹²⁶ regelmäßig wiederholt *¹²⁵ werden müssen, ohne das ein Ende abzusehen ist *⁹⁴.
- Kinder und Jugendliche wurden bisher nicht als Personen mit Rechten, sondern nur als Virusträger gesehen. *¹²⁷. Diese Betrachtung als „Mittel zum Zweck” widerspricht ihrer persönlichen Würde *¹²⁸.
- Es ist dringend wissenschaftlich zu klären, ob Kinder und Jugendliche überhaupt epidemiologisch relevante Überträger des Virus sind *¹³¹. Nach vorliegenden Daten spielen sie für die Ausbreitung der Epidemie nur eine untergeordnete Rolle *¹³⁰.
- Ihr Anteil an der Bevölkerung macht 13% aus, der Anteil an den Infektionen nur 2–3% *¹²⁹. Daher stellt sich auch angesichts der moderaten Evidenz und hohen Kosten *¹¹²-¹¹² die Frage nach der Effektivität von Schulschließungen *¹¹³, was mindestens durch entsprechende Begleitforschung geklärt werden sollte, die bislang versäumt wurde *¹¹⁴.
- Wenn der Schutz der Risikogruppen *⁹⁸ gelungen ist, muss die gezielte Öffnung der allgemeinen, unspezifischen Präventionsmaßnahmen erfolgen *¹⁰¹. Es ist nicht nachvollziehbar, warum sich Kinder und Personen jüngeren Alters dann nicht frei bewegen können sollten zumal sich diese wahrscheinlich in jedem Fall anstecken werden, dabei aber nur selten erkranken *⁹⁹.
Das alles gibt Anlaß zur Hoffnung, diese Virus-Pandemie schnell und erfolgreich einzudämmen und bald zu einem relativ normalen Leben zurückzukehren
MAI
Das Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft — IMVR der Universität Köln veröffentlicht am
03. Mai zusammen mit u.a. Prof. Püschel vom Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf das überarbeitete Thesenpapier 2.0 zur Pandemie durch SARS-CoV-2 /Covid-19 [PDF, Quelle ⁶-²], welches wieder als einzelnes PDF (obige Quelle) und etwas später auch in Form eines Artikels in der Zeitschrift ‘Monitor Versorgungsforschung’ erscheint.
[In dem Thesenpapier wird an einigen Stellen Bezug genommen auf die ’Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Länder am 15. April 2020’. Dieses Dokument ist hier von bundesregierung.de abrufbar]
“Außerdem erscheint die Art der Kommunikation von Wichtigkeit: […] Alle Beteiligten müssen darauf hinwirken, dass es nicht zu geschlossenen Argumentationsketten kommt, die anderslautenden Nachrichten keinen Raum mehr geben können. […]
SARS-CoV-2/Covid-19 [ist] eine typische Infektionskrankheit […und] sie stellt keinen Anlass [dar…], alle Regeln, alles Gemeinsame, alles Soziale in Frage zu stellen oder sogar außer Kraft zu setzen *¹³².“ [S.3]
“In erster Linie fehlen energisch vorangetriebene Kohorten- und Clusterstudien, die Daten zur Prävalenz von SARS-CoV-2/Covid-19 in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe […] verfügbar machen, zunehmend auch begleitet von Antikörperbestimmungen (Seroprävalenz) *¹³³. […] Der Bericht der „Genesenen“ ist irreführend, da die Zahl der Erkrankten nicht bekannt ist *¹³³.” [S.4]
“[Die] Einstellung der Testdurchführung [würde] den R-Wert sofort auf null absinken lassen *¹³⁴, bei einer Ausweitung des Testumfanges aber zwangsläufig zu einer Erhöhung des R-Wertes führen, da eine Ausweitung der Stichprobengröße von einem Anstieg der gemeldeten Fälle gefolgt ist.” [S.5]
“Kinder werden seltener infiziert, sie werden seltener krank, die Letalität liegt nahe bei null, und sie geben die Infektion seltener weiter, so dass der Öffnung unter entsprechender wissenschaftlicher Begleitung nichts im Wege stehen sollte*¹³⁵. […] die allgemeinen Präventionskonzepte [weisen] das Paradoxon auf […], dass sie umso länger andauern müssen, umso erfolgreicher sie sind (Befürchtung der „zweiten Welle“) *¹³⁶.” [S.6]
“Die positiven Auswirkungen des Lockdown auf den Verlauf der Epidemie sind schwer abzuschätzen, sichere Hinweise auf eine Wirkung der verschiedenen Ausprägungen existieren bislang nicht *¹³⁷. Einfache unkontrollierte Beobachtungen über den Zeitverlauf reichen nicht aus.” [S.7]
“Zielgruppen-orientierte Präventionsmaßnahmen bedürfen eines positiven framing, das ohne die Assoziation Isolation und Zwang bzw. Sanktion auskommt und ganz auf Förderung, Autonomie und Würde der Person ausgerichtet ist. [Es ist] die Diskussion an[zu]stoßen, wie Risikogruppen zu definieren sind. Zielführend sind hier mehrdimensionale Scores, die die Eigenschaften Alter, Komorbidität, nosokomiales Risiko und Cluster-Zugehörigkeit kombinieren *¹³⁸.” [S.8]
“Kinder stellen […] ebenfalls eine vulnerable Gruppe dar *¹³⁹ […]. Weiterhin zeigen die Studien, die z.B. zur Wirksamkeit von Schulschließungen auf den Verlauf dieser (und anderer) Epidemien vorliegen, nur eine marginale Wirkung *¹⁴⁰. Es kann nur die Empfehlung ausgesprochen werden, im Bereich der Kindergärten und Schulen die Rückkehr zu einer möglichst weitgehenden Normalisierung zu beschreiten *¹⁴¹.” [S.9]
“Zwar kann in Grundrechte auch der gesamten Bevölkerung eingegriffen werden, doch bedürfen Eingriffe stets einer legitimen Rechtfertigung und eines transparenten Abwägungsprozesses zwischen konkurrierenden Grundrechten sowie zwischen Grundrechten und Schutzpflichten des Staates *¹⁴².” [S.10]
“Trifft die Infektion auf Populationen, bei denen […] das System der Gesundheitsversorgung unvorbereitet ist und z.B. durch Großereignisse mit hoher Durchseuchung […] überlastet ist, kommt es zu katastrophalen Verläufen mit Infizierung des Personals, [Engpässen bei] Schutzkleidung und explosionsartig zunehmenden Todesfällen insbesondere bei älteren Personen *¹⁴³.” [S.12]
“[Es] wird immer noch die kumulative Häufigkeit in den Mittelpunkt der Kommunikation gestellt, obwohl diese zu einer überzeichneten Wahrnehmung führt, statt dass die öffentliche Wahrnehmung primär auf die Zahl der täglich neuen Fälle (in Relation zur Zahl der getesteten Personen) gelenkt wird, die derzeit deutlich abnimmt *¹⁴⁴.” [S.14]
“Das vom RKI etablierte Berichtswesen setzt auf der Annahme auf, dass die SARS-CoV-2/Covid-19- Epidemie eine durch tägliche Messungen abbildbare homogene Entwicklung darstellt (wie der Peilstab bei einsetzender Flut) *¹⁴⁵. Diese Annahme ist bei einer Epidemie dieser Art jedoch nicht zutreffend, denn es handelt sich um ein inhomogenes, herdförmig ablaufendes Geschehen *¹⁴⁶. Zur quantitativen Abschätzung sind daher eher definierte klinische Endpunkte wie z.B. belegte Intensivbetten, und Ereignisse im Hochrisikobereich wie z.B. Infizierte in Pflegeheimen, geeignet *¹⁴⁷.” [S.15]
“In der Konsequenz [der Darstellung der ‘Genesenen’] dürfte es dann außerdem keine asymptomatisch Infizierten geben *¹⁴⁸. […] die Zahl der „Genesenen“ muss auf die Zahl der symptomatisch Erkrankten bezogen und entsprechend berichtet werden. […] Auch für die epidemiologisch zentrale Frage, ob die beobachtete Sterblichkeit wirklich auf die Erkrankung zurückzuführen ist (attributable mortality), ist keine den wissenschaftlichen Standards entsprechende Entwicklung sichtbar *¹⁴⁹.” [S.16]
“[Es ist] für eine adäquate Beurteilung der Situation unerlässlich zu erfahren, ob die trotzdem noch beobachteten Todesfälle der Infektion zuzurechnen sind […]. Gerade die hohe Komorbidität der meist älteren Patienten lässt diese Frage als unausweichlich erscheinen. Die Autoren [weisen] darauf hin, dass die attributable mortality in anderen Zusammenhängen seit Jahrzehnten den unbestrittenen Standard bei der Klärung des Zusammenhangs zwischen Exposition (z.B. Infektion) und Outcome (in diesem Fall Tod) darstellt *¹⁵⁰. […] Im Fall von Covid-19 bieten allerdings derzeit weder das RKI noch die WHO, die CDC (Center of Diseases Control, USA) oder andere Organisationen eine klare Definition der Covid-19 bedingten Letalität an *¹⁵¹.” [S.18]
Kenntnislücken zwischen Infizierten und Genesenen
“Das RKI muss die Grundgesamtheit, auf die sich die Sterblichkeit bezieht, […] genauso nennen wie die zurechenbare Letalität (attributable mortality). Der Bezug auf die gemeldeten Fälle ist wegen der Dunkelziffer […] methodisch unzulässig *¹⁵².” [S.20]
“[…] durch die täglich durchgeführten Angaben der Testprävalenz [wird] die relative Häufigkeit von schwerer Erkrankten überschätzt *¹⁵³[…]” [S.21]
“Prävalenzuntersuchungen sind vielleicht zu Beginn einer Epidemie nicht zu vermeiden, aber problematisch. Es kommen dabei mehrere Effekte zusammen, die alle zu einer Überschätzung der Problematik führen:
— Grundsätzlich überschätzen Prävalenzuntersuchungen die Häufigkeit im Vergleich zur Inzidenz *¹⁵⁴.
— Anlass-bezogene Testungen überschätzen die Häufigkeit *¹⁵⁴.
— Prävalenzuntersuchungen überschätzen die Bedeutung von Patienten mit schweren Verläufen *¹⁵⁵, […]Der Nachweis der Infektion erfolgt in der Praxis über den PCR-Nachweis des Virusgenoms. Dieser Nachweis ist nicht identisch mit der Infektiosität *¹⁵⁶.
Es bestehen zwei unterschiedliche Probleme: — die Viruskultur ist am Anfang der Erkrankung bereits positiv und der Erkrankte infektiös, aber die PCR ist noch nicht positiv (mangelnde Sensitivität der PCR) und — die Viruskultur ist am Ende der Erkrankung (z.B. nach 1 Woche) bereits negativ und der Patient nicht mehr infektiös, aber die PCR bleibt positiv (mangelnde Spezifität der PCR) *¹⁵⁷.” [S.22] [siehe dazu folgende Abbildung:]
Nachweisbarkeit einer Infektion und der Infektiösität durch PCR und andere Tests im Zeitverlauf…
… und in Abhängigkeit von der Sensitivität und der Spezifität
“In jedem Szenario ist folglich die Mehrzahl der als positiv getesteten Personen zwar auf SARS-CoV-2/Covid-19 PCR- positiv, aber nicht infektiös *¹⁵⁸. […] Der IgM-Nachweis beschreibt also die akute Infektion, der IgG-Nachweis die […] andauernde Immunantwort.” [S.25]
“Die Testeigenschaften des IgM-/IgG-Nachweises sind allerdings noch nicht im Einzelnen beschrieben. Auch hier ist entscheidend, mit welcher Fragestellung man die Spezifität untersucht. Bei den Antikörpernachweisen ist die Frage von größtem Interesse, ob es eine Kreuzreaktion mit anderen Coronaviren gibt, die im Laufe der Grippesaison der letzten Jahre entstanden ist („unspezifisch“ würde dann heißen, dass der Test z.B. Corona CoO43 nachweist) *¹⁵⁹. […] In der Folge steht dann die Frage im Vordergrund, ob speziell der IgM-Nachweis Unterstützung in der Abklärung der Infektiosität nach überstandener Erkrankung (oder bei asymptomatischen PCR-positiven Patienten) geben kann. Im besten Fall ergibt sich eine Teststrategie, die das Problem mit der Spezifität bzw. dem Positiven Prädiktiven Wert (PPW) der PCR dadurch beherrschbar machen könnte, dass ein positiver PCR-Nachweis bei bereits nachweisbarem IgM- Antikörper nicht mehr als Zeichen der Infektiosität angesprochen wird. […] Die (allerdings sehr aufwendige und nicht für den Routineeinsatz geeignete) Viruskultur wäre in diesem Fall bereits negativ. Studien zu dieser Fragestellung sind dringend durchzuführen, da auf diese Weise die Notwendigkeit bzw. Dauer der Quarantäne verringert und eine Überlastung des (öffentlichen) Gesundheitssystems verhindert werden könnten *¹⁶⁰. […] Im Beschlusspapier vom 15.4.2020 wird von einem „zielgerichteten“ Vorgehen bei der Testung gesprochen. […] In erster Linie ist [zu ent]scheiden, ob man eine repräsentative Stichprobe testet, die ein […] Bild über die Häufigkeit der Infektion in der Bevölkerung, […] oder ob man die Klärung und Nachverfolgung von Infektionswegen zum Ziel hat […]. Beide Zielorientierungen sind außerordentlich sinnvoll und dürfen nicht konkurrieren *¹⁶¹.” [S.26]
“Bei einem Testumfang von 100.000 Personen ist bei einer Prävalenz von 1:100 bereits von 9900 falsch-positiven Testergebnissen auszugehen (Spezifität 90%). Will man wirklich im Rahmen der „Testoffensive“ 4,5 Mio. Tests pro Woche durchführen (Prävalenz 1%), dann muss man bei einer — Spezifität von 90% mit wöchentlich 445.500 falsch-positiven Ergebnissen, — Spezifität von 95% mit wöchentlich 222.750 falsch-positiven Ergebnissen, und — (unrealistischen) Spezifität von 99% mit wöchentlich 44.550 falsch-positiven Ergebnissen rechnen, denen selbst bei einer utopischen Sensitivität von 100% nur 45.000 richtig-positive Befunde gegenüberstehen würden *¹⁶².” [S.27]
“Diese Konstellationen würden zum Kollaps jeder präventiv angelegten Strategie führen, ganz gleichgültig wie sehr man das Öffentliche Gesundheitswesen ausbaut. In der Praxis ist ja nicht bekannt, ob ein Befund falsch-positiv ist, so dass dieser Befund einer Nachverfolgung wie jeder andere auch bedarf *¹⁶³, […] Es darf in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden, dass eine PCR-Untersuchung immer nur eine Momentaufnahme darstellt* und man das Szenario fortlaufend wiederholen müsste. ” [S.28]
Erhebliche Unterschiede in der Anzahl der falsch positiven Ergebnisse anhand von Anlaß und Zeitpunkt der Tests
“Abb. 5: Einfaches Entscheidungsbaum-Modell zur Testung von 100.000 Personen mit einer Prävalenz von 1:100. In Option A werden von 1000 Infizierten nur 400/500 (100 entgehen der Testung) symptomatischen Infizierten getestet (plus durch Kontaktuntersuchungen 100 asymptomatisch Infizierte). Von 99.000 Nichtinfizierten werden 9000 Personen getestet (z.B. Kontaktuntersuchungen), es ergeben sich hier 900 fp [=falsch positiv] Befunde. In Option B werden alle Personen getestet unabhängig vom Infektionsstatus. 900 richtig erkannten Infizierten stehen 9900 Personen gegenüber, bei denen der Test positiv ist, obwohl sie nicht infektiös sind (fp Befunde). Ergebnis: In Option B werden 11 mal so viele fp [=falsch positiv]Befunde erhoben wie in Option A *¹⁶⁴.” [S.29]
“R [ist] beliebig zu variieren, z.B. je nachdem wie man die Stichprobenumfänge in den beiden verglichenen Intervallen verändert (soweit der Testumfang die absolute Zahl der auftretenden gemeldeten Fälle beeinflusst, und dies ist der Fall). So würde R auf Null absinken, sobald man im zweiten Zeitraum B die Testdurchführung stoppt, würde man dagegen die Testdurchführung forcieren, wird die Reproduktionszahl deutlich ansteigen *¹⁶⁵.” [S.30]
“Auffallender Weise wird im Beschlusspapier vom 15.4.2020 als Richtschnur für anstehende Entscheidungen überhaupt keine epidemiologische Größe mehr genannt. Im Vorspann wird zwar der Begriff der „Infektionsgeschwindigkeit“ herangezogen, den man aber eher als eine umgangssprachliche Umschreibung bezeichnen muss *¹⁶⁶.” [S.31]
“Wenig hilfreich ist auch die Art der Kommunikation bzgl. des zeitlichen Verlaufs der Reproduktionszahl. In einer Publikation des RKI ist ersichtlich, dass R bereits zwei Tage vor der Verkündung des Lockdown durch die Bundesregierung unter 1,0 gefallen war (am 21.3.2020) und seitdem auf diesem Niveau geblieben ist. n. Der Einwand, der Effekt vor dem 21.3. sei bereits durch die reine Ankündigung des Lockdown erzielt worden, kann in keiner Weise überzeugen *¹⁶⁷, denn die zur Berechnung des R-Wertes notwendigen Infektionsfälle beziehen sich auf Ansteckungen, die bereits zwei Wochen zurückliegen. […] Die Beobachtung ist ja durchaus mit der Annahme vereinbar, dass von diesen Maßnahmen keine weitere Wirkung ausgegangen ist *¹⁶⁸.” [S.32]
“Offensichtlich war das Versammlungsverbot vom 9.3.2020 bereits ausreichend gewesen. Eine zusätzliche Wirkung des Kontaktverbotes ist kaum als durchschlagend zu werten *¹⁶⁹ […].” [S.33]
“[Eine] sehr sorgfältig durchgeführte Studie [Santa Clara, Kalifornien, 3000 Probanden] spricht für eine Dunkelziffer von 50:1 *¹⁷⁰. In diesem Zusammenhang ist auch die sog. Gangelt-Studie zu erwähnen, von der erste Daten eine Seroprävalenz (Antikörpernachweis einer durchgemachten Infektion) von 14% […] der Untersuchten zeigten. Diese Untersuchung betraf ein Hochrisikogebiet, und es gab Zweifel an der Spezifität der Antikörpertests, daher muss man weiter Daten abwarten. […]” [S.36]
“”Da es deutliche Hinweise auf eine relevante Zahl von asymptomatisch Infizierten und auf eine hohe Dunkelziffer gibt, muss der Aufwand zur Planung und Umsetzung von aussagekräftigen Kohortenstudien verstärkt werden *¹⁷¹. Die Ergebnisse werden […] dazu führen, dass die in der Kommunikation des RKI verwendeten Zahlen (Anteil Genesener, Anteil Intensivpflichtiger, Sterblichkeit) deutlich absinken *¹⁷².” [S.37]
“Nach den Daten des European Centre for Disease Prevention and Control liegt die Letalität bei Kindern unter 10 Jahren nicht erkennbar über null *¹⁷³.” [S.38]
“Kinder […] werden zum einen deutlich seltener infiziert, und zum anderen werden sie nicht schwer krank. Einer Öffnung der Betreuungs- und Bildungseinrichtungen für Kinder steht aus wissenschaftlicher Sicht keine begründbare Erkenntnis entgegen *¹⁷⁴. […]
Die im Thesenpapier Version 1.0 angesprochene Rolle von SARS-CoV-2/Covid-19 als nosokomiale hat sich bestätigt, […] In Deutschland hat es mittlerweile mehrere Ausbrüche gegeben. Es sind 2014 Personen in Krankenhäusern oder Praxen infiziert worden, davon sind 310 verstorben (RKI-Situationsbericht 27.4.2020) *¹⁷⁵.” [S.39]“Die Bedeutung der Einrichtungen der Gesundheitsversorgung wird allerdings durch die Rolle der Pflege- und Betreuungseinrichtungen noch in den Schatten gestellt. In Deutschland sind mehrere Pflegeeinrichtungen in einen krisenhaften Zustand geraten *¹⁷⁶. Nach den RKI-Zahlen sind bislang 10948 in Pflegeheimen betreute Personen infiziert worden und 2007 davon verstorben. 6687 Personen, die in diesen Einrichtungen tätig sind, wurden infiziert, 24 davon verstorben *¹⁷⁷. In ersten Untersuchungen schildern Pflegende die Inkohärenz der Zuständigkeiten, den Mangel an Ausrüstung *¹⁷⁸ und ganz allgemein ein „Alleingelassensein“ in der extrem belastenden Situation.” [S.40]
“Die Angabe einer „Mortalität von 3,5%“ in den RKI-Situationsberichten ohne Angabe der Grundgesamtheit kann dazu führen, dass die Diktion und nicht die Fakten zum eigentlichen Grund der im Raum stehenden Verschärfung werden*¹⁷⁹.” [S.43]
“Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, die zurzeit gegebene Präventionsstrategie energisch und ergebnisoffen auf den Prüfstand zu stellen*¹⁸⁰. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es weder möglich ist, die Gesellschaft in einem über 5 Jahre andauernden Shutdown zu halten, noch — und dies erscheint als zentraler Punkt — die Grundrechte über einen so langen Zeitraum in einem Maße einzuschränken, wie es derzeit der Fall ist. Die Gesellschaft würde — unter anderem durch Gewöhnungseffekte — dadurch schleichend einen irreparablen und dauerhaften Schaden nehmen*¹⁸¹.” [S.44]
“[…] was sehen wir eigentlich, wenn wir die Bergamo-Bilder im Fernsehen betrachten? Sehen wir die Krankheit und ihre Folgen — ja. Wir sehen aber auch ein zusammenbrechendes Gesundheitssystem, zumindest auf lokaler Ebene, bei dem die Präventionsanstrengungen nicht ausreichend waren *¹⁸².” [S.45]
“Auch aus der weiter bestehenden ausgeprägten Inhomogenität der allgemeinen Präventionsmaßnahmen, die selbst innerhalb Deutschlands existiert, müsste bei einer inkrementellen Wirksamkeit der einzelnen Bestandteile Unterschiede zu beobachten sein, die einen Gradienten hin zu strengeren Maßnahmen aufweisen *¹⁸³. Dies ist jedoch nicht der Fall, so haben derzeit Schweden und auch Deutschland keine höheren Infektionszahlen oder einen rascheren Verlauf als Italien, Spanien und Frankreich, wo man zur völligen Blockierung jeglicher, auch wirtschaftlicher Aktivität gegriffen hat. Zusätzlich bleiben die Zweifel an der Effizienz der Maßnahmen bestehen, also dem Verhältnis von gewünschter Wirkung zu den unerwünschten Nebeneffekten *¹⁸⁴. Nach ersten Darstellungen sind die Nebeneffekte massiv und greifen tief in das soziale Leben, die familiären Strukturen, in die persönliche ökonomische Lebenssituation und die Ausübung der beruflichen Tätigkeit ein *¹⁸⁵; die Einschränkung der Grundrechte sind an dieser Stelle noch gar nicht erwähnt.” [S.48]
“Das Konzept, durch eine möglichst vollständige Nachverfolgung aller Infektionsketten eine hermetische Abriegelung des Virus zu erreichen, missachtet die Eigenschaft einer Infektionserkrankung mit asymptomatischen Virusträgern und einer hoch-infektiösen präsymptomatischen Phase, dass sie nämlich auftritt wo sie will und wann sie will *¹⁸⁶. Aus diesem Blickwinkel der Emergenz ist es sogar möglich, dass der Schutz der Risikogruppen durch allgemeine Präventionsstrategien nicht gefördert, sondern gefährdet wird *¹⁸⁷. […] das unablässige, repetitive Betonen der Verantwortlichkeit und Solidarität tut das seine (vor allem wenn es sich um Gruppen handelt, die sonst wenig Solidarität erfahren). […]
Daher ist der Zeitpunkt gekommen, über gezielte Schutzmaßnahmen zu diskutieren *¹⁸⁸, die nicht per „Absonderungsverfügung“ kommen, sondern eine fürsorgliche, die Autonomie der Zielgruppen respektierende und die Würde des Einzelnen wahrende Vorgehensweise darstellen. Wenn dies nicht gelingt, wird die Diskussion um diesen Punkt nicht enden, dafür aber spitzer und polemischer werden *¹⁸⁹, […] Zunächst […] sollte überlegt werden, wo überhaupt der größte Bedarf eines unterstützenden Schutzes besteht. Am besten wäre dies über eine Betrachtung zu leisten, die mehrere Gesichtspunkte gleichzeitig mit einbezieht, und diese jeweils gewichtet und wertet […nach den Kriterien] Alter […] Komorbidität […], nosokomiales Risiko […] und [der …] Zugehörigkeit zu [einem] Cluster […]. Die erste Gruppe muss in der Pflegeeinrichtung optimal versorgt werden, und die zweite Gruppe sollte optimale Unterstützung erhalten bei Arztbesuchen, beim Einkaufen etc. Die Geschäfte und Supermärkte könnten verpflichtend für die zweite Gruppe einen Zeitslot einrichten, wo sie risikolos dort einkaufen können, weil die sonstige Bevölkerung in dieser Zeit darauf verzichtet, denn auch im Alter will man aus dem Haus und Einkäufe gelegentlich selbst erledigen. Der Besuch durch die Enkelkinder könnte erleichtert werden durch den kostenlosen Zugang zu Schnelltests.[…] Personen über 60 Jahre ohne oder mit [nur] einer Vorerkrankung können sich frei bewegen *¹⁹⁰.” [S.53]
“Für die Risikogruppen muss aus dem daran geknüpften Vorgehen ein Vorteil erwachsen, z.B. durch bevorzugte und geschützte Nutzung des öffentlichen Raumes oder durch besondere Unterstützung bei der Pflege *¹⁹¹.” [S.55]
“Dysfunktional sind Äußerungen, die unbelegte Voraussagen im positiven und negativen Sinne als Fakten darstellen. […]. Damit drängt sich […] der Eindruck auf, dass die Bedrohung jeden Tag größer wird, obwohl dies seit mehreren Wochen nicht mehr der Fall ist *¹⁹². Gleiches gilt für die Darstellung der Mortalität, die das RKI als Gesamtzahl seit Beginn der Corona Epidemie in Deutschland täglich neu angibt. Auch hier fehlt jegliche Einordnung, aber die Zahl an sich wirkt erschreckend, obwohl für Deutschland bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abschließend geklärt ist, ob eine sog. Übersterblichkeit tatsächlich vorliegt *¹⁹³. ” [S.61]
“Alle Kenntnisse über Kommunikation in Risikosituationen gehen […] dahin, dass eine drohende Kulisse immer nur für einen begrenzten Zeitraum aufrechterhalten werden kann, weil es anderenfalls zur Toleranzentwicklung oder auch zu einer aktiven Abwehrhaltung kommt *¹⁹⁴. Eine über Wochen in dieser Form nicht relativierte Art der Darstellung durch die maßgebliche Bundesoberbehörde ist daher nicht sinnvoll. Es besteht außerdem die Gefahr, dass der Eindruck entsteht, mit einer solchen Darstellung von offizieller Seite solle nicht informiert, sondern Meinungen beeinflusst werden *¹⁹⁵.” [S.39]
“Es wäre daher zu fordern, dass nach anerkannten Grundsätzen einer transparenten Risikokommunikation eine klare Kommunikationsstrategie entwickelt wird, die einerseits die herausfordernden Unsicherheiten der Epidemie nicht negiert, andererseits aber von einer fortwährenden Drohkulisse zu einer konstruktiv-positiven Darstellung übergeht, die die Kompetenzen der Bürger und Bürgerinnen in den Mittelpunkt stellt *¹⁹⁶.” [S.39]
Gemeinsame Stellungnahme [PDF] vom 18./19. Mai der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, e.V., Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V., dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte sowie der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene:
“Kitas, Kindergärten und Grundschulen sollen möglichst zeitnah wieder eröffnet werden. Dies ist auf Seiten der Kinder ohne massive Einschränkungen […] möglich. […] Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder- und Jugendliche stellen im Gegensatz zu Seniorenheimen per se keine Hochrisikoumgebung dar *¹⁹⁷ […] Der Nachweis einzelner Infektionen bei Kindern oder Schülern darf nicht automatisch zur erneuten Schließung der gesamten Kita oder Schule führen *¹⁹⁸.” [S.2]
“Der Anteil von Kindern der Altersgruppe bis 10 Jahre an allen positiv getesteten Patienten liegt bislang bei 1 bis 2% und erreicht maximal 6% bis zum Alter von 20 Jahren. In Deutschland lag der Anteil der Kinder < 10 Jahre bei 1,9% und von 10–19 Jahren bei 4,3% *¹⁹⁹.” [S.3]
“[…] die publizierten Auswertungen der bisherigen Coronavirus-Pandemien MERS und SARS-1 ergeben ein zunehmend schlüssiges Bild, dass Kinder in der aktuellen CoVid-19-Pandemie im Gegensatz zur Rolle bei der Influenza-Übertragung keine herausragende Rolle in der Ausbreitungsdynamik spielen *²⁰⁰. Die Infektionsübertragung auf Kinder innerhalb von Familien erfolgt in der Regel durch infizierte Erwachsene , während Belege für eine Transmission auf mehrere Erwachsene durch ein infiziertes Kind bisher fehlen *²⁰¹.” [S.4]
“Nach Ansicht der unterzeichnenden Fachgesellschaften zeigen die bislang veröffentlichten Analysen über die Ausbreitungsdynamik von SARS-CoV-2 und die Verläufe von CoVid-19, daß Kinder im Vergleich zu Erwachsenen eine deutlich untergeordnetere Rolle in der Verbreitung des Virus einnehmen *²⁰². […] Kinder und Jugendliche erkranken nicht nur seltener, sondern auch im Falle einer Infektion in der Regel weniger schwer als Erwachsene. Die übergroße Mehrzahl der Infektionen im Kindes- und Jugendalter verläuft asymptomatisch oder oligosymptomatisch [=mit wenigen Symptomen] *²⁰³. […] Zwischen der in den oberen Atemwegen nachgewiesenen Viruslast und dem Übertragungsrisiko besteht kein linearer Zusammenhang, da letzlich die auf die Schleimhäute des Empfängers gelangte Virusmenge über eine Infektion entscheidet *²⁰⁴.” [S.9]
“Die DAKJ weist darauf hin, dass vor und während der Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen für Kinder und Jugendliche die Folgen für diese Bevölkerungsgruppe nicht thematisiert und die Betroffenen und ihre Fürsprecher nicht gehört wurden, womit die elementaren Rechte der Kinder missachtet wurden *²⁰⁵.” [S.10]
2.3 Die neuen Erkenntnisse und der Wissensstand im Mai 2020:
- SARS-CoV-2 ist eine typische Infektionskrankheit, die keinen Anlass darstellt, alles Gemeinsame, alles Soziale in Frage zu stellen *¹³².
- Was sehen wir denn durch die Bergamo-Bilder? Einerseits sehen wir eine Krankheit und ihre Folgen. Andererseits sehen wir ein lokal zusammenbrechendes Gesundheitssystem bei dem die Präventionsanstrengungen nicht ausreichend waren *¹³².
- Trifft die Infektion auf Populationen, bei denen das System der Gesundheitsversorgung unvorbereitet und/oder überlastet ist, kommt es zu krisenhaften Zuständen *¹⁷⁶ mit katastrophalen Verläufen *¹⁷⁷ mit Infizierung des Personals, fehlender Schutzkleidung *¹⁷⁸ und explosionsartig zunehmenden Todesfällen *¹⁷⁵-¹⁷⁷, insbesondere bei alten Menschen *¹⁴³.
- Die Berichte des RKI stellen die Entwicklung der Epidemie als homogene Entwicklung ähnlich einer einsetzenden Flut dar. *¹⁴⁵. Dies ist falsch, da es sich um ein inhomogenes, herdförmig ablaufendes Geschehen handelt *¹⁴⁶.
- Eine Eigenschaft einer Infektionserkrankung mit asymptomatischen Virusträgern und einer hochinfektiösen präsymptomatischen Phase ist, dass sie auftritt wo und wann sie will *¹⁸⁶.
- Für die Kenntnis der Lage fehlen energisch vorangetriebene Kohorten- und Clusterstudien *¹³³-¹⁷¹.
- Die Nennung von kumulierten Rohdaten *¹⁴⁴ (Infzierte, Gestorbene) ohne Bezug zu anderen Todesursachen führt zur Überschätzung des Risikos *¹²³.
- Der Bericht der „Genesenen“ ist irreführend, da die Zahl der Erkrankten nicht bekannt ist *¹³³ und es bei dieser Darstellung keine asymptomatisch Erkrankten geben dürfte *¹⁴⁸, wobei dies die größte Gruppe ist.
- Die Darstellung der epidemiologisch zentralen Frage der zurechenbaren Sterblichkeit genügt keinen wissenschaftlichen Standards *¹⁴⁹. Seitens z.B CDC, WHO und RKI gibt es für COVID-19 noch keine Definition *¹⁵¹ für die zurechenbaren Sterblichkeit, obwohl solche Definitionen seit Jahrzehnten den unbestrittenen Standard darstellen *¹⁵⁰.
- Der Bezug auf die gemeldeten Fälle ist wegen der Dunkelziffer methodisch unzulässig *¹⁵².
- Zur quantitativen Abschätzung der Epidemie sind klinische Endpunkte wie belegte Intensivbetten, und Ereignisse im Hochrisikobereich wie Infizierte in Pflegeheimen, eher geeignet *¹⁴⁷.
- Eine sehr sorgfältig durchgeführte Studie in Santa Clara, Kalifornien, kommt auf eine Dunkelziffer von 50:1.
- Prävalenzuntersuchungen ergeben etwa zehn mal mehr falsch positive Ergebnisse wie anlassbezogene *¹⁶⁴, sie überschätzen die Häufigkeit im Vergleich zur Inzidenz und die relative Häufigkeit *¹⁵³ schwerer Verläufe *¹⁵⁵. Anlassbezogene Untersuchungen dagegen überschätzen die Häufigkeit *¹⁵⁴. Dabei sind Vorgehensweisen für bestimmte Fragen sinnvoll und dürfen nicht konkurrieren *¹⁶¹.
- Bei richtig verweneter Datenlage würden die dargestellten Zahlen deutlich sinken *¹⁷², so bleibt der Eindruck einer Bedrohung bestehen, die [Anfang Mai!] seit mehreren Wochen nicht mehr gegeben ist *¹⁹².
- Die Darstellung der Mortalität durch das RKI ist mehr Meinung *¹⁹⁵ als Fakt *¹⁷⁹, und wirkt unnötig erschreckend, da sich die angegebene Mortalität in der Übersterblichkeit in 2020 nicht widerspiegelt *¹⁹³.
- Die Reproduktionszahl R ist beliebig zu variieren *¹⁶⁵: die Einstellung der Testdurchführung würde den R-Wert sofort auf null absinken lassen *¹³⁴.
- Der überall verwendete PCR-Nachweis des Virusgenoms ist nicht identisch mit der Infektiosität *¹⁵⁶. Am Anfang der Erkrankung ist der Erkrankte infektiös, aber die PCR ist noch nicht positiv (=mangelnde Sensitivität der PCR) und nach z.B. einer Woche ist der Patient nicht mehr infektiös, aber die PCR bleibt positiv (=mangelnde Spezifität der PCR). Die aufwändige Viruskultur ist hier genauer *¹⁵⁷.
- Unabhängig von der genauen Sensitivität und Spezifität der Tests ist in allen Fällen die Mehrzahl der als positiv getesteten Personen zwar auf SARS-CoV-2/Covid-19 PCR- positiv, aber nicht infektiös *¹⁵⁸. Auch besteht zwischen der in den oberen Atemwegen nachgewiesenen Viruslast und dem Übertragungsrisiko kein linearer Zusammenhang *²⁰⁴.
- Bei den Antikörpernachweisen ist die Frage von größtem Interesse, ob es eine Kreuzreaktion mit anderen Coronaviren gibt, die im Laufe der Grippesaison der letzten Jahre entstanden ist („unspezifisch“ würde dann heißen, dass der Test z.B. Corona CoO43 nachweist) *¹⁵⁹. Studien zu dieser Fragestellung sind dringend durchzuführen [siehe Juli, 2.6], da auf diese Weise eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert werden könnten *¹⁶⁰.
- Bei sehr hohen Testzahlen ist wöchentlich mit 44.550 falsch-positiven Ergebnissen rechnen, denen selbst bei einer utopischen Sensitivität von 100% nur 45.000 richtig-positive Befunde gegenüberstehen *¹⁶². Diese Konstellationen würden zum Kollaps jeder Strategie führen, ganz gleich wie sehr man das Gesundheitswesen ausbaut, da auch alle falsch-positiven Befunde einer Nachverfolgung bedürfen *¹⁶³.
- Das Versammlungsverbot vom 09.03. war zum Abbremsen der Epidemie-Ausbreitung ausreichend *¹⁶⁸-¹⁶⁹. Das Gegenargument, der Effekt vor dem 21.3. sei bereits durch die reine Ankündigung des Lockdown erzielt worden, kann in keiner Weise überzeugen *¹⁶⁷.
- Es ist nach wie vor unklar *¹³⁷-¹⁸³, inwieweit sich die NPIs tatsächlich auf den Verlauf der Epidemie auswirken *¹²⁴, daher muss die Strategie überprüft *¹⁸⁰ werden: Im Beschlusspapier vom 15.4.2020 [siehe Quellenangaben Mai] wird überhaupt keine epidemiologische Größe mehr als Richtschnur für anstehende Entscheidungen genannt. Im Vorwort wird lediglich der umgangssprachliche Begriff der „Infektionsgeschwindigkeit“ verwendet *¹⁶⁶.
- Die Erfordernis die Strategie zu überprüfen, ist vor allem gegeben, weil die NPI umso länger andauern müssen, je erfolgreicher sie sind *¹³⁶ und weil die gewünschte Wirkung mit den unerwünschte Nebeneffekten in keinem Verhältnis stehen *¹⁸⁴.
- Der Schutz der Risikogruppen wird durch allgemeine Präventionsstrategien nicht gefördert, sondern gefährdet *¹⁸⁷, daher müssen gezielte Schutzmaßnahmen *¹⁸⁸ begonnen werden. Diese sind möglich, wenn die Risikogruppen anhand mehrdimensionaler Scores (Alter, Komorbidität, nosokomiales Risiko und Cluster-Zugehörigkeit) definiert sind. *¹³⁸ Für die Risikogruppen muss aus dem Vorgehen ein Vorteil erwachsen, z.B. durch bevorzugte Nutzung des öffentlichen Raumes*¹⁹¹. Sind die speziellen Schutzmaßnahmen implementiert, kann sich die restliche Bevölkerung, einschließlich über 60-jähriger mit max. einer Vorerkrankung frei bewegen *¹⁹⁰.
- Kinder spielen nur eine deutlich untergeordneter Rolle *¹⁴⁰, *²⁰² in der Ausbreitungsdynamik *¹⁹⁹-²⁰⁰. Sie werden seltener infiziert *²⁰¹, sie werden seltener krank *¹³⁵-²⁰³, die Letalität liegt nahezu bei null *¹⁷³, und sie geben die Infektion seltener weiter *²⁰¹, so dass der Öffnung von Schulen und KiTas nicht nur nichts entgegensteht *¹⁷⁴, diese sollten schnell wieder geöffnet werden *¹⁴¹.
- Kinder sind selber eine vulnerable Gruppe *¹³⁹, deren elementare Rechte missachtet werden *²⁰⁵. Der Nachweis einzelner Infektionen bei Kindern rechtfertigt nicht die erneute Schließung der gesamten Einrichtung *¹⁹⁸, da diese im im Gegensatz zu Seniorenheimen per se keine Hochrisikoumgebung darstellen *¹⁹⁷.
- Die das Leben erheblich beinträchtigenden *¹⁸⁵ Grundrechtseingriffe, die bei längerem Bestehen zu schleichenden und irreparablen gesellschaftlichen Schäden führen *¹⁸¹ bedürfen einer ständigen transparenten Rechtfertigung *¹⁴². Fehlt diese, wird die Diskussion polemisch werden *¹⁸⁹, woraus in der Folge eine aktive Abwehrhaltung entsteht *¹⁹⁴.
- Viel sinnvoller ist es, die Kompetenzen der Bürger und Bürgerinnen in den Mittelpunkt stellen *¹⁹⁶.
Das alles gibt Anlaß zur Hoffnung, diese Virus-Pandemie bald erfolgreich einzudämmen und dann zu einem relativ normalen Leben zurückzukehren
JUNI
„Viele Faktoren haben wir nicht mal ansatzweise begriffen“ Interview vom 16.06.2020 mit Prof. Gerd Antes, Universität Freiburg, im Deutschlandfunk:
“DLF: Welche Wissenslücken bezüglich des neuen Corona-Virus wurden seit Ende März geschlossen? [siehe Interview mit dem Spiegel vom 31. März oben]
Gerd Antes: Also, von den Wissenslücken, die ich damals beklagt habe, ist eigentlich erschreckend wenig gefüllt worden. Wo es gefüllt worden ist, das ist an einer völlig anderen Front […] Erscheinungen im Krankheitsbild und im Krankheitsverlauf, das hat enorm zugenommen, aber die Dinge, die ich damals beklagt habe, sind weiterhin unklar. […] Wir wissen beides nicht. Wir wissen nicht, wer schon infiziert war, und wir wissen auch nicht, wer gegenwärtig infiziert ist. Also die Dunkelziffer hat auch zwei Dimensionen, und wenn man mal mit der zweiten anfängt, die Zahlen, die wir von morgens bis abends in den Medien sehen, die sind nicht die Anzahl der Infizierten, sondern das ist die Anzahl der positiven Tests *²⁰⁶. Da diese Tests völlig willkürlich und […] unter chaotischen Bedingungen ausgewählt werden und durchgeführt werden, können wir daraus nichts ziehen*²⁰⁷, außer dass wir vielleicht in dem einen Fall wissen, dass jemand, der den Test gemacht hat, positiv ist *²⁰⁷. […]
DLF: Das heißt, […daß] aus Sicht der evidenzbasierten Medizin klare Belege fehlen. Sehen Sie uns in Deutschland auf einem guten Weg, dass wir diese […] Wissenslücken bald schließen können?
Antes: Nein, ich glaube, Deutschland ist gegenwärtig auf einem katastrophalen Weg. Dass wir irgendwann mal diesen Shutdown gemacht haben, das war sicherlich evidenzfrei, das war eine Panikreaktion *²⁰⁸. Ich persönlich glaube, das war richtig, weil wir einfach nicht mehr wussten — da hat man erst mal den Schutz maximiert –, aber gegenwärtig hätten wir die Möglichkeit, sogenannte Begleitforschung zu machen und differenzierter zu öffnen und dann wirklich die Daten zu erheben *²⁰⁹, was da passiert, aber so, wie wir gerade gegenwärtig sehen, dass die Wissenschaft damit beschäftigt werden könnte, wie wir Mallorca zurückerobern, das ist natürlich wissenschaftlich gesehen und im Sinne von Erkenntnisgewinn absurd *²¹⁰. […]
DLF: Wie sieht es mit den Wissenschaftlern aus? Haben die jetzt die richtigen Studien angestrengt?
Antes: Nein, das ist ein anderer sehr beklagenswerter Zustand. Wir haben inzwischen eine unglaubliche Anzahl an Studien, die zum Thema COVID-19 begonnen wurde oder auch schon Publikationen, also tausende, und alles ist völlig unkoordiniert, sowohl global, aber auch in Deutschland. Was einfach fehlt hier, ich nenne das immer einen Masterplan. Also, wir wissen ja, wo die ganzen Fragen offen sind, und die könnte man ganz gezielt angehen mit Studien, aber dann müsste man wirklich eine Koordination haben. Da versagt unser System gegenwärtig völlig *²¹¹.”
Am 22. Juni hält der Statistiker und Epidemiologe Dr. John Ioannidis von der Standford University ein webinar mit dem Titel ’COVID-19: high risks, high prevalence, high-level evidence, and high-stake decisions’: [Aufzeichnung verfügbar z.B. hier auf youtube.com ]
Warum findet sich diese Online-Präsentation zwischen den anderen hier angeführten offiziellen Quellen? Ioannidis hat eine Auswahl getroffen, mit der anhand einiger Grafiken und Darstellungen wesentliche Eigenschaften des Virus und der Pandemie klar und verständlich vermittelt werden.
Einige Screenshots von youtube.com von dem webinar mit zentralen Aussagen:
“Modellrechnungen sind mit Vorsicht zu genießen *²¹²” — Links: gute, aber dann falsch abflachende Modellierung für Kaliforniern, Mitte: sehr gute Modellierung für New Jersey, Rechts: viel zu hohe Modellierung für New York:
“Epidemische Wellen sind Gompertz-Funktionen *²¹³ ” — eine in Wissenschaft stark und in der Darstellung der Medien völlig vernachlässigte Eigenschaft einer Epidemie: ihr zeitlicher Verlauf ist stärker von Eigenschaften geprägt, die in der sog. Gompertz-Funktion beschrieben sind, als von unseren Gegenmaßnahmen:
[Hier Links zu diesem Thema, auf das ich hier nicht weiter eingehen kann:
— die japanischen Studie ‘Universality in COVID-19 spread in view of the Gompertz function’ und
— die US-amerikanischen Studie Modeling Region Based Regimes for COVID-19 Mitigation: Inverse Gompertz function fitting to the Cumulative Confirmed Coronavirus infections in the U.S., New York and New Jersey ]
“Altersverteilung der Sterbefälle” — diese Grafik stellt die prozentuale Verteilung der Sterbefälle nach Alter dar. Einige Länder weltweit und einige Staaten in den USA:
[In vier (bunt) oder zwei (grau) Altersgruppen. Deutliche Ausreißer sind hier Indien und Mexiko mit sehr junger Bevölkerung]
“Altersbezogene Risikoverteilung (im Zeitverlauf)”*²¹⁴. Dargestellt ist das Sterblichkeitsrisiko nach Alter und Geschlecht im Zeitverlauf von knapp drei Monaten ab dem 01. Februar:
Achzigjährige haben ein etwa tausendmal höheres Risiko als Kinder
“Gefährdungsverteilung nach Risikofaktoren” — anders als in den Medien und von der Politik vielfach vermittelt, handelt es sich nicht um ein undifferenziertes, allgemeines und sehr hohes Todesrisiko:
Hier die Grafik des vorigen Screenshots nochmal aus der Originalstudie mit Übersetzungen und kleinen Bearbeitungen von mir:
Auf einer logarithmischen Skala (waagrecht, von einem Viertel bis 10-fach) sind die zusätzlichen Risikofaktoren für einen schweren Verlauf der COVID-19 Erkrankung angegeben. Der Normalfall (z.B. keine Diabetes) ist 1. Es liegt dank der Studie, die Ioannidis hier zitiert, ein sehr differenziertes Bild der verschieden hohen Risiken aller ‘üblichen’ Lebens- und Krankheitsfaktoren vor *²¹⁵:
‘Risiko in Abhängigkeit von Komorbitäten, Alter und weiteren Faktoren’
“Das Sterberisiko übersetzt in ein alltägliches Risiko” — Das Risiko, als unter 65-jähriger Mensch an der COVID-19 Erkrankung zu sterben, dargestellt als Risiko-Equivalent eines tödlichen Verkehrsunfalls mit dem eigenen Auto. Die entsprechende tägliche Fahrleistung im Vergleich von verschiedenen Ländern.
Das Risiko für einen unter 65-jährigen Erwachsenen, in Deutschland an COVID-19 zu sterben, entspricht dem Risiko eines tödlichen Verkehrsunfalls bei einer täglichen Fahrleistung von 15km*²¹⁶:
Fazit:
“Maßnahmen, die wirken sollten:
- Intensive frühe Tests in Verbindung mit Kontaktnachverfolgung in der frühen Phase (bevor sich die Epidemiewelle festsetzt) *²¹⁷, z.B. Singapur und Taiwan waren hier sehr erfolgreich. Singapur hat 42.000 Infektionen mit nur 26 Todesfällen dokumentiert.
- Diese Testungen beibehalten, um eine zweite Welle frühzeitig zu erkennen. Hierzu muss eine strenge epidemiologische Überwachung durchgeführt werden (repräsentative Bevölkerungsstichprobe) *²¹⁸.
- Anwendung der Kenntnisse zur Risikoverteilung *²¹⁹.
- Krankenhäuser und Pflegeheime schützen = drakonische Hygiene- und Infektionskontrollmaßnahmen *²²⁰ sowie regelmäßige Testungen aller Mitarbeiter und Bewohner. Verkürzung der Testintervalle während der akuten Phase der Epidemie
- Drakonische Schutzmaßnahmen für etwa 5–10% der Bevölkerung *²²¹ (Risikogruppen)
- Schutzmaßnahmen für Hochrisiko-Einrichtungen (z. B. Fleischverarbeitung, Gefängnisse, Obdachlosenunterkünfte, Schiffe) *²²².
- Standardmaßnahmen mit erwiesenem Nutzen und Eignung für die Bevölkerung (Hände waschen, Nies-etikette, gegebenenfalls Masken, und einige störungsarme Distanzierungsmaßnahmen).
- COVID-19 ist eine Krankheit der Ungleichheit, die noch mehr Ungleichheit schafft: Benachteiligte Gruppen sind zu schützen
- Und -bitte- nicht die ganze Welt mit aggressiven Maßnahmen zerstören”
2.4 Die neuen Erkenntnisse und der Wissensstand im Juni 2020:
- Der Lockdown im März war eine evidenzfreie Panikreaktion *²⁰⁸.
- Die täglich gemeldeten Fallzahlen sind nicht die Anzahl der Infizierten, sondern die Anzahl der positiven Tests *²⁰⁶. Da diese willkürlich und unter chaotischen Bedingungen ausgewählt und durchgeführt werden, können wir daraus keine validen Daten ziehen *²⁰⁷.
- Mittlerweile sind wir in der Lage, Begleitforschung zu machen, gesellschaftliche Bereiche differenziert zu öffnen, und dann brauchbare Daten zu erheben *²⁰⁹. Allerdings ist die Wissenschaft damit beschäftigt, wie wir Mallorca zurückerobern können *²¹⁰. Das ist natürlich wissenschaftlich gesehen und im Sinne von Erkenntnisgewinn absurd.
- Hier versagt unser System gegenwärtig völlig *²¹¹.
- Modellrechnungen sind mit Vorsicht zu genießen *²¹².
- Epidemische Wellen sind Varianten von Gompertz-Funktionen *²¹³.
- Das Risiko für einen unter 65-jährigen Erwachsenen, in Deutschland an COVID-19 zu sterben, entspricht dem Risiko eines tödlichen Verkehrsunfalls bei einer täglichen Fahrleistung von 15km *²¹⁶.
- In der frühen Phase der Epidemie sollte intensiv anlassbezogen getestet und die Kontaktnachverfolung angewandt werden *²¹⁷, in der späteren Phase braucht es repräsentative Testungen *²¹⁸.
- Das Risiko ist sehr stark in Abhängigkeit von Alter *²¹⁴ und Komorbiditäten verteilt *²¹⁵, diese Kenntnisse müssen umgesetzt werden *²¹⁹: es bedarf starker Schutzmaßnahmen für
— Risikogruppen (d.h. ca. 5–10% der Bevölkerung) *²²¹
— Krankenhäuser und Pflegeheime *²²⁰ sowie weiterer
— Hochrisiko-Einrichtungen *²²²
JULI
Das Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft — IMVR der Universität Köln veröffentlicht am 08. Juli ‘ Eine erste Bilanz’ [PDF, Quelle ⁶-⁴]:
Leseempfehlung! Hier ist einfach kein Platz mehr…
Auf nature.com wird am 29. Juli die Studie mit dem Titel ’SARS-CoV-2-reactive T cells in healthy donors and patients with COVID-19’ [PDF, Quelle ⁹] vorab veröffentlicht. Der sogenannte peer-review erfolgt derzeit.
Aufgrund des unglaublich positiven Inhalts erforderliches Name-dropping: einer der Autoren ist Christian Drosten.
Aus dem Abstract von der Webseite wie auch auf S.1 des Artikels:
“Severe acute respiratory syndrome coronavirus 2 (SARS-CoV-2) has caused the rapidly unfolding coronavirus disease 2019 (COVID-19) pandemic. Clinical manifestations of COVID-19 vary, ranging from asymptomatic infection to respiratory failure. The mechanisms determining such variable outcomes remain unresolved. Here, we investigated SARS-CoV-2 spike glycoprotein (S)-reactive CD4+ T cells in peripheral blood of patients with COVID-19 and SARS-CoV-2-unexposed healthy donors (HD). We detected SARS-CoV-2 S-reactive CD4+ T cells in 83% of patients with COVID-19 but also in 35% of HD *²²³. […] S-reactive T cell lines generated from SARS-CoV-2-naive HD responded similarly to C-terminal S of human endemic coronaviruses 229E and OC43 and SARS-CoV-2, demonstrating the presence of S-cross-reactive T cells, probably generated during past encounters with endemic coronaviruses *²²⁴. The role of pre-existing SARS-CoV-2 cross-reactive T cells for clinical outcomes remains to be determined in larger cohorts. However, the presence of S-cross-reactive T cells in a sizable fraction of the general population may affect the dynamics of the current pandemic *²²⁵.”
(Wörtliche) Übersetzung:
“Das schwere akute respiratorische Syndrom Coronavirus 2 (SARS-CoV-2) hat die sich schnell entwickelnde Pandemie der Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID-19) verursacht. Die klinischen Manifestationen von COVID-19 variieren und reichen von asymptomatischen Infektionen bis hin zu Atemversagen. Die Mechanismen, die solch unterschiedliche Ergebnisse hervorrufen, sind noch nicht verstanden. Wir untersuchten SARS-CoV-2-Spike-Glykoprotein (S)-reaktive CD4 + T-Zellen im peripheren Blut von Patienten mit COVID-19 und von gesunden Spendern die mit SARS-CoV-2 noch nicht in Berührung kamen. Wir haben SARS-CoV-2 S-reaktive CD4 + T-Zellen bei 83% der Patienten mit COVID-19, aber auch bei 35% der gesunden Probanden nachgewiesen *²²³. […] S-reaktive T-Zelllinien, die aus SARS-CoV-2-naiven Probanden erzeugt wurden, reagierten ähnlich auf C-terminal S der humanen endemischen Coronaviren 229E und OC43 und SARS-CoV-2 und zeigten das Vorhandensein von S-kreuzreaktivem T-Zellen, die wahrscheinlich bei früheren Begegnungen mit endemischen Coronaviren entstanden sind *²²⁴. Die Rolle vorhandener kreuzreaktiver SARS-CoV-2-T-Zellen für die klinischen Ergebnisse muss in größeren Kohorten noch bestimmt werden. Das Vorhandensein von S-kreuzreaktiven T-Zellen in einem beträchtlichen Teil der Allgemeinbevölkerung kann jedoch die Dynamik der aktuellen Pandemie beeinflussen *²²⁵.”
Und jetzt auf deutsch:
Bei der Krankheit Covid-19 gibt es aus noch unbekannten Gründen sowohl asymtomatische als auch sehr schwere Verläufe mit Atemversagen. Die Untersuchungen haben gezeigt, daß 83% der Infizierten T-Zellen *²²³ haben, die gegen Sars-CoV-2 aktiv sind, die also eine Antwort des Immunsystems gezeigt haben. In der Testgruppe der gesunden Probanden, die noch keinen Kontakt zu dem Virus hatten, haben 35% der Menschen ebenfalls diese T-Zellen *²²³, die wahrscheinlich bei früheren Begegnungen mit endemischen Coronaviren entstanden sind *²²⁴. Dieser Umstand beeinflusst höchstwahrscheinlich die Dynamik der Pandemie *²²⁵.
Anmerkung: 83% ist etwa der %-Satz der Infizierten, die keine oder nur leichte Symptome habt, die damit sogenannt ‘asymptomatisch’ sind, weil ihr Immunsytem mit der Infektion erfolgreich umgeht.
Und jetzt als Schlagzeile (die Leitmedien bringen ja keine guten Nachrichten mehr):
Die asymptomatischen Infizierten sind asymptomatisch, weil sie ein gut funktionierendes Immunsystem haben
Ein Drittel der Bevölkerung verfügt über Kreuzimmunität gegen Sars-CoV-2, die aus früheren Begegnungen mit ‘normalen’ Coronaviren entstanden ist
Warte, geht noch weiter!
“However, limited test availability and preferential testing of symptomatic patients has likely lead to significant underestimation of infection burden and overestimation of case-fatality rates *²²⁶. Serological analysis of SARS-CoV-2-induced humoral immunity could reveal asymptomatic infections, but it is not yet widely applied and complicated by the fact that coronavirus-induced antibody responses are quite variable and rather short-lived *²²⁷. Coronavirus-induced cellular immunity is predicted to be more sustained *²²⁸ […]
Studies of the SARS-CoV epidemic in 2002/03 have shown that adaptive immune responses directed against spike glycoprotein were protective *²²⁹.“
Immer noch Seite 1 — definitiv meine neue Lieblingsstudie!
Übersetzung:
Die begrenzte Verfügbarkeit von Tests und die vorrangige Prüfung symptomatischer Patienten haben wahrscheinlich zu einer erheblichen Unterschätzung der Infektionslast und einer Überschätzung der Sterblichkeitsraten geführt *²²⁶. Die serologische Analyse der SARS-CoV-2-induzierten humoralen Immunität könnte asymptomatische Infektionen aufzeigen, ist jedoch noch nicht weit verbreitet und kompliziert, da die Coronavirus-induzierten Antikörperantworten sehr unterschiedlich und eher kurzlebig sind *²²⁷. Es wird vermutet, dass die Coronavirus-induzierte zelluläre Immunität länger anhält *²²⁸ […]
Studien zur SARS-CoV-Epidemie 2002/03 haben gezeigt, dass adaptive Immunantworten gegen Spike-Glykoproteine schützend wirken *²²⁹. [Links zu ‘humorale’, ‘zelluläre’ und ‘adaptive Immunität’ von mir]
Auf deutsch:
Die bisherige Vorgehensweise der zuständigen Stellen hat dazu geführt, daß die Zahl der Infektionen erheblich unterschätzt und die Sterblichkeitsraten erheblich überschätzt wurden *²²⁶. Die Analyse, die asymptomatische Fälle erkennen kann, ist sehr kompliziert und daher nicht weit verbreitet *²²⁷. Die zelluläre Immunantwort ist wahrscheinlich von langlebiger Natur *²²⁸. Aus der SARS-Epidemie 2003 weiß man, daß die adaptive Immunantwort schützend wirkt *²²⁹.
Als Schlagzeile:
Das bisherige Vorgehen der zuständigen Stellen hat dazu geführt, daß die Zahl der Infektionen erheblich unterschätzt, und die Sterblichkeitsraten erheblich überschätzt wurden
Anders als bei den viel untersuchten, aber relativ kurzlebigen Antikörpern, ist die schützende zelluläre Immunantwort langlebig, wie seit der SARS-Epidemie 2003 bekannt ist
Weiter mit der Studie:
“This suggests that S-reactivity in SARS-CoV-2 naïve HD originated from previous immune responses to HCoVs *²³⁰. We therefore tested 18 of the 68 HD for the presence of antibodies specific for the four endemic HCoVs. We detected IgG antibodies against all four HCoVs in all tested HD, regardless of the presence of measurable S-reactive CD4+ Tcells. Frequencies of S-(cross)-reactive CD4+ T-cells in RHD [=reactive healthy donors] did not correlate with antibody levels against HCoVs potentially indicating that they have not been generated very recently *²³¹. […]
Our study demonstrates the presence of S-reactive CD4+ T-cells in COVID-19 patients, and in a considerable proportion of SARS-CoV-2 unexposed HD. In light of the recent emergence of SARS-CoV-2, our data raise the intriguing possibility that such pre-existing S-reactive T-cells represent cross-reactive clones, probably acquired in previous infections with endemic HCoVs *²³². HCoVs account for approximately 20% of “common cold” upper respiratory tract infections, are ubiquitous, but display a winter seasonality. Based on epidemiological data, it may be extrapolated that adults contract an HCoV infection on average every two to three years. Protective antibodies may wane mid-term but cellular immunity could remain *²³³. […]
The biological role of pre-existing S-cross-reactive CD4+ Tcells in 35% of HD remains unclear for now. However, assuming that these cells have a protective role in SARS-CoV-2 infection, they may contribute to understanding the divergent manifestations of COVID-19, and the striking resilience of children and young adults to symptomatic SARS-CoV-2 infection *²³⁴. Especially children in day care centers but also young adults have more frequent social contacts than elderly, and thus may have a higher HCoV prevalence. […]
Understanding the extent to which and how SARS-CoV-2-specific humoral or cellular immunity mediates durable protection against reinfection is of critical importance in the coming months. Our study reveals pre-exisiting cellular SARS-CV-2-cross-reactivity in a substantial proportion of SARS-CoV-2 seronegative HD. This finding might have significant epidemiological implications regarding herd immunity thresholds and projections for the COVID-19 pandemic *²³⁵.”
Übersetzung:
“Dies legt nahe, dass die S-Reaktivität bei SARS-CoV-2-naiver Probanden von früheren Immunantworten auf HCoVs herrührt *²³⁰. Wir haben daher 18 der 68 gesunden Probanden auf Antikörper getestet, die für die vier endemischen HCoVs [=humane Coronaviren] spezifisch sind. Wir haben IgG-Antikörper gegen alle vier HCoVs in allen getesteten gesunden Probanden nachgewiesen, unabhängig vom Vorhandensein messbarer S-reaktiver CD4 + T-Zellen. Die Häufigkeit von S-(kreuz-)reaktiven CD4 + T-Zellen in kreuzimmunen Probanden korrelierte nicht mit den Antikörperniveaus gegen HCoVs, was möglicherweise darauf hinweist, dass sie nicht in letzter Zeit erzeugt wurden *²³¹. […]
Unsere Studie zeigt das Vorhandensein von S-reaktiven CD4 + T-Zellen in COVID-19-Patienten und in einem beträchtlichen Anteil der gesunden Probanden. In Anbetracht des erstmaligen Auftretens von SARS-CoV-2 weist dies auf die faszinierende Möglichkeit hin, dass solche bereits vorhandenen S-reaktive T-Zellen eine Kreuzimmunität darstellen, die wahrscheinlich in früheren Infektionen mit endemischen HCoVs erworben wurden *²³². HCoVs machen ca. ungefähr 20% der Infektionen mit “gewöhnlicher Erkältung“ der oberen Atemwege aus, und sind allgegenwärtig, zeigen aber eine Wintersaisonalität. Basierend auf epidemiologischen Daten kann extrapoliert werden, dass Erwachsene durchschnittlich alle zwei bis drei Jahre eine HCoV-Infektion durchmachen. Schützende Antikörper dürften mittelfristig schwinden, aber die zelluläre Immunität bleibt wohl bestehen *²³³. […]
Die biologische Rolle bereits vorhandener S-kreuzreaktiver CD4 + T-Zellen bei 35% der Probanden ist vorerst unklar. Unter der Annahme, dass diese Zellen eine schützende Rolle bei der SARS-CoV-2-Infektion spielen, können sie jedoch zum Verständnis der unterschiedlichen Manifestationen von COVID-19 und der bemerkenswerten Widerstandsfähigkeit von Kindern und jungen Erwachsenen gegenüber symptomatischen SARS-CoV-2-Infektionen beitragen *²³⁴. Insbesondere Kinder in Kindertagesstätten, aber auch junge Erwachsene haben häufigere soziale Kontakte als ältere Menschen und können daher eine höhere HCoV-Prävalenz aufweisen. […]
In den kommenden Monaten ist es von entscheidender Bedeutung zu verstehen, inwieweit und wie SARS-CoV-2-spezifische humorale oder zelluläre Immunität einen dauerhaften Schutz vor einer erneuten Infektion vermittelt. Unsere Studie zeigt eine bereits vorhandene zelluläre SARS-CV-2-Kreuzreaktivität in einem wesentlichen Anteil der seronegativen SAR von SARS-CoV-2. Dieser Befund könnte erhebliche epidemiologische Auswirkungen auf die Schwellenwerte und Prognosen der Herdenimmunität für die COVID-19-Pandemie haben *²³⁵.” [Links von mir eingefügt]
Auf deutsch:
Die (Kreuz)Immunität gesunder Menschen gegen SARS-CoV-2 ist das Resultat von Immunitätantworten gegen andere humane Coronaviren (HCoVs) *²³⁰. In allen getesteten gesunden Probanden waren Antikörper gegen alle vier HCoVs nachweisbar, unabhängig vom Kreuzimmunität gegen Corona, was bedeutet, daß diese seit längerem vorhanden sind *²³¹.
Die ‘corona-wirksamen’ T-Zellen des Immunsystems der Probanden sind eine (Kreuz)Immunität, die aus der Immunantwort auf das beständige Vorhandensein von HCoVs in unserem Leben entstanden sind *²³². Die gewöhnliche Erkältung besteht zu ca. 20% aus HCoVs, so daß jeder Erwachsene alle zwei bis drei Jahre eine derartige Infektion erleben dürfte. Dies führt zu den zellulären Immunität *²³³.
Das Auffinden von (Kreuz)Immunität bei 35% der gesunden Probanden dürfte die stark unterschiedlichen Verläufe der Krankheit einerseits und die ‘bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen gegenüber symptomatischen SARS-CoV-2-Infektionen’ andererseits erklären *²³⁴.
Diese Erkenntnisse haben erhebliche Auswirkungen auf die epidemiologischen Schwellenwerte und Prognosen der Herdenimmunität für die COVID-19-Pandemie *²³⁵.
Als Schlagzeile:
Kinder und Jugendliche sind so bemerkenswert widerstandsfähig gegen Corona, weil sie ‘Virenschleudern’ sind
Erwachsene mit einer stabilen Immunantwort haben diese aus einem ‘gewöhnlichen Winterschupfen’ der Vorjahre
Die Herdenimmunität ist schon viel weiter erreicht, als bislang gedacht
2.5 Die neuen Erkenntnisse und der Wissensstand im Juli 2020:
- 83% der Infizierten haben T-Zellen, die gegen SarsCoV2 aktiv sind, gesunde Probanden, die noch keinen Kontakt zu dem Virus hatten, haben zu 35% ebenfalls diese T-Zellen *²²³, die wahrscheinlich bei früheren Begegnungen mit Coronaviren entstanden sind *²²⁴.
- Das Auffinden von (Kreuz)Immunität bei 35% der gesunden Probanden dürfte die stark unterschiedlichen Verläufe der Krankheit einerseits und die ‘bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen gegenüber symptomatischen SARS-CoV-2-Infektionen andereseits erklären *²³⁴.
- Die Analyse zur Erkennung asymptomatischer Fälle ist nicht weit verbreitet *²²⁷
- Die Immunität gegen SARS-CoV-2 ist das Resultat von Immunitätsantworten gegen andere beständig vorhandene *²³² humane Coronaviren (HCoVs) *²³⁰, die vor längerer Zeit entstanden sein müssen *²³¹. Da gewöhnliche Erkältungen zu ca. 20% aus HCoVs bestehen dürfte jeder Erwachsene alle zwei bis drei Jahre eine derartige Infektion erleben, die zu der zellulären Immunität führt. *²³³.
- Diese Immunitäts-Werte beeinflussen die Dynamik der Pandemie *²²⁵ vor allem, weil die zelluläre Imunantwort wohl langlebig ist, *²²⁸ wie man aus der SARS-Epidemie weiß *²²⁹.
- Die Darstellung des des Robert-Koch-Institut hat die Zahl der Infektionen erheblich unterschätzt und die Sterblichkeitsraten erheblich überschätzt *²²⁶; die neuen Erkenntnisse haben erhebliche Auswirkungen auf die epidemiologischen Schwellenwerte und Prognosen der Herdenimmunität für die COVID-19-Pandemie. *²³⁵
August
Das Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft — IMVR der Universität Köln veröffentlicht am 05. August eine weitere Überarbeitung des Thesenpapiers, Version 3.0 [PDF, Quelle ⁶-³]:
“ SARS-CoV-2/Covid-19 stellt eine typische Infektionskrankheit dar. *²³⁶ […], der oligo- [=wenig] bzw. asymptomatische Verlauf ist häufig, hohes Alter und bestehende Vorerkrankungen bedingen eine schlechte Prognose und die Letalität liegt insgesamt unter 1 %. […]
[Die] Identifizierung von Übertragungswegen [ist] problematisch, so dass sich Infektionsherde bilden können, die erst relativ spät als solche erkannt werden. Wie auch bei anderen Epidemien (z. B. Ebola) sind es zu Beginn gerade Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, die als Ausbreitungsort in Frage kommen *²³⁷. Die Patienten wenden sich an diese Institutionen und führen dort zu einer hohen Belastung, die meisten Institutionen sind jedoch noch nicht vorbereitet, es fehlen Schutzmaterialien, und durch Infektion (und Ausfall) von Mitarbeitern kommt es zu einer galoppierenden Dysfunktionalität dieser Einrichtungen *²³⁸. Die damit in Zusammenhang stehenden Eindrücke sind für die öffentliche Rezeption der Epidemie von tragender Bedeutung *²³⁹.” [S.1]
“Epidemiologische Häufigkeitsmaße, die Eigenschaften der Testverfahren und Kennzahlen für die Dynamik der Epidemieentwicklung bilden die Grundlage für jegliche präventive Strategie *²⁴⁰. In diesem Zusammenhang muss es als ein schwerwiegendes Versäumnis bezeichnet werden, dass in Deutschland nicht bereits Anfang März mit einer zufallsgesteuerten Kohortenstudie auf nationaler Ebene begonnen wurde *²⁴¹, obwohl bereits damals klar war, dass es eine hohe Rate asymptomatischer bzw. oligosymptomatischer Verläufe gibt und man nur durch eine Kohorte in der Lage sein wird, verlässliche Aussagen zur Häufigkeitsentwicklung zu machen. Stattdessen wird bis heute die Häufigkeit der Infektion mit anlassbezogenen Testsystemen beschrieben (Zahl täglicher Neuerkrankungen, kumulative Häufigkeit, kumulative Sterblichkeit etc.), bei denen es nicht möglich ist, den Testumfang als maßgeblichen Einflussfaktor auszuschließen *²⁴² (mehr Teste führen auch bei gleichbleibender Häufigkeit zu einem Anstieg der Zahlen). Dringend zu fordern wäre daher zumindest die Angabe der täglich durchgeführten Tests. Zusätzlich sorgt die kumulative Darstellung für eine übermäßige Dramatisierung, da auf diese Weise der Eindruck eines unabänderlichen Anstiegs vermittelt wird […]
Im Zusammenhang hiermit muss die Bedeutung der PCR (das gängige Testverfahren) in der späten Krankheitsphase problematisiert werden, wenn die Symptome bereits abgeklungen sind und eine Immunität durch Antikörper bereits aufgebaut ist *²⁴³.” [S.2]
“Allerdings ist aufgrund des sog. Bayes’schen Theorems gerade bei der z. Zt. zu beobachtenden Abnahme der Infektionshäufigkeit in der Bevölkerung mit einer großen Zahl falsch-positiver Ergebnisse zu rechnen, soweit die Teste auch nur geringste Spezifitätsprobleme aufweisen *²⁴⁴. Die Folge wäre die absehbare Überlastung des öffentlichen Gesundheitswesens durch sog. falsch-positive Ergebnisse, d. h. durch ein Ansprechen des Tests, obwohl keine Infektion vorliegt. […] [Link von mir eingefügt]Zur Covid-19-Infektion im Kindesalter lässt die umfangreiche, Outcome-bezogene Literatur eine relativ sichere Aussage zu: Kinder werden seltener infiziert, sie werden seltener krank, die Letalität liegt nahe bei null, und sie geben die Infektion wahrscheinlich sogar seltener weiter *²⁴⁵. Wenngleich das klinische Bild von Covid-19 in der medizinischen Betreuung natürlich eng beobachtet werden muss, so steht der Öffnung der Schulen und Betreuungseinrichtungen unter Beachtung entsprechender hygienischer Standards und unter wissenschaftlicher Begleitung nichts im Wege. […]
Es sind bereits jetzt Unterschiede in der Bewältigung der Pandemie sichtbar, die durch Erreger- oder Wirtseigenschaften kaum erklärbar erscheinen, sondern die Gegebenheiten der lokalen und nationalen Konfiguration und Funktionsweise des jeweiligen Gesundheitssystems widerspiegeln *²⁴⁶. […]
Die Strategie der Abflachung (mitigation) durch allgemeine, universell angewandte Präventionsmaßnahmen (social distancing etc.): Diese Maßnahmen weisen das Paradoxon auf, dass sie umso länger andauern müssen, umso erfolgreicher sie sind, da sonst eine „zweite Welle“ befürchtet wird *²⁴⁷. Wegen dieser Problematik besteht die unausgesprochene Tendenz, die mitigation in eine Strategie der Eradikation (suppression) [=zum Verschwinden bringen] zu überführen; diese Strategie zeichnet sich in Deutschland derzeit ab *²⁴⁸.” [S.3]
“Es muss jedoch stark bezweifelt werden, dass eine Eradikation in einer hochgradig (auch international) vernetzten Gesellschaft wirklich umsetzbar ist, ohne die Freiheit der Person und die Grundrechte dauerhaft einzuschränken *²⁴⁹. […]
Die Autoren schlagen daher ein spezifisches Präventionskonzept vor, das als „dritter Weg“ auf der Strategie der Abflachung basiert, diese jedoch nicht in eine Eradikation überführt, sondern durch spezifische Präventions- und Schutzmaßnahmen für die Bevölkerungsgruppen (und Institutionen) mit dem größten Risiko ergänzt […].
Die mitigation-Strategie mit universellen Präventionsmaßnahmen weist jedoch nicht nur Defizite hinsichtlich der fast zwangsläufigen Überführung in ein Eradikationskonzept und der daran zu knüpfenden Fragen zur Machbarkeit massive Defizite auf, sondern es bestehen auch schwerwiegende Zweifel an dessen Wirksamkeit *²⁵⁰. […] Die Inhomogenität des Vorgehens im internationalen Vergleich z. B. zwischen Ländern der EU sollte eigentlich die Beobachtung von Unterschieden zulassen, die auf einzelne Komponenten des Lockdown zurückzuführen wären, dies lässt sich jedoch nicht feststellen *²⁵⁰.” [S.4]
Der zweite Teil des Textes ist wegen des Schwerpunktes Verfassungsrecht unten in Kapitel 3 zu finden.
2.6 Die neuen Erkenntnisse und der Wissensstand im August 2020:
- SARS-CoV-2/Covid-19 stellt eine typische Infektionskrankheit dar *²³⁶, bei der es zu Epidemie-Beginn in Einrichtungen der Gesundheitsversorgung zu Krankheits-Ausbrüchen kam *²³⁷, die nahezu Zusammenbrüche dieser Einrichtungen zur Folge hatten *²³⁸, und deren mediale Darstellung für die öffentliche Rezeption der Epidemie von erheblicher Bedeutung sind *²³⁹.
- Epidemiologische Werte, die Test-Eigenschaften und Kennzahlen für die Dynamik der Epidemieentwicklung bilden die Grundlage für jegliche Strategie *²⁴⁰. Daher ist es ein schwerwiegendes Versäumnis, dass in Deutschland nicht bereits Anfang März mit einer zufallsgesteuerten Kohortenstudie auf nationaler Ebene begonnen wurde *²⁴¹, denn bei anlassbezogenen Testungen ist es nicht möglich, den Testumfang als maßgeblichen Einflussfaktor auszuschließen *²⁴².
- Weiter ist problematisch, daß der PCR-Test anschlägt, auch wenn bereits Immunität aufgebaut ist *²⁴³. Sofern die Tests auch nur geringste Spezifitätsprobleme aufweisen, ist mit einer großen Zahl falsch-positiver Ergebnisse zu rechnen *²⁴⁴.
- Kinder werden seltener infiziert, seltener krank, die Letalität liegt nahe bei null, und sie geben die Infektion seltener weiter *²⁴⁵.
- Es sind Unterschiede in der Bewältigung der Pandemie sichtbar, die durch Erreger- oder Wirtseigenschaften nicht mehr erklärbar sind. Die Unterschiede spiegeln das jeweilige Gesundheitssystem wider *²⁴⁶.
- Die Corona-Maßnahmen weisen das Paradoxon auf, dass sie umso länger andauern müssen, umso erfolgreicher sie sind, da sonst eine „zweite Welle“ befürchtet wird. *²⁴⁷. Wegen dieser Problematik besteht die unausgesprochene Tendenz, die mitigation in eine Strategie der Eradikation (suppression) zu überführen; diese Strategie zeichnet sich in Deutschland derzeit ab *²⁴⁸.
- Es muss jedoch stark bezweifelt werden, dass eine Eradikation in einer hochgradig vernetzten Gesellschaft wirklich umsetzbar ist, ohne die Freiheit der Person und die Grundrechte dauerhaft einzuschränken *²⁴⁹. Die mitigation-Strategie mit universellen Präventionsmaßnahmen weist jedoch nicht nur Defizite hinsichtlich der fast zwangsläufigen Überführung in ein Eradikationskonzept und der daran zu knüpfenden Fragen zur Machbarkeit massive Defizite auf, sondern es bestehen auch schwerwiegende Zweifel an dessen Wirksamkeit *²⁵⁰.
3. Der Stand der verfassungsrechtlichen Bewertung der Maßnahmen
Die verfassungsrechtlichen Bewertungen erscheinen beginnend im März vor allem auf verfassungsblog.de, wo sich viele Verfassungsrechtler äußern, die sowohl in den Thesenpapieren [Quelle ⁶] oben, als auch in der unten zitierten (und vielen anderen) Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zitiert werden.
Die Einschätzungen bleiben inhaltlich über Monate nahezu konstant:
erheblich problematisch oder wohl verfassungswidrig
…lautet die Extremkurzfassung.
Die nachfolgenden drei Texte fasse ich nicht wie oben weiter zu Kernaussagen zusammen. Das sind bereits alles Kernaussagen.
Am 27. März veröffentlicht der Deutsche Ethikrat eine ‘Ad-hoc Empfehlung zur Corona-Krise’ [PDF]:
Neben den ethischen Erwägungen zu Triage-Entscheidungen steht dort:
“[Es empfiehlt sich eine] Strategie mit einem weitreichenden abschirmenden Schutz vulnerabler Gruppen […]
[Dann muss] darüber nachgedacht werden, in welchem Ausmaß und wie lange die Gesellschaft erhebliche Einschränkungen ihres Alltagslebens verkraften kann. Zu klären ist, welche Maßnahmen in welchem Umfang und von welcher Dauer aus sozialer (rechtlicher, ökonomischer, politischer) und medizinischer Perspektive angemessen und auf längere Sicht vertretbar sind. […]
[Bereits zu Beginn der Maßnahmen] geht es um die Frage, unter welchen Bedingungen von einem wieder akzeptablen Risikolevel als zwar notwendig unbestimmtem, aber gleichwohl gesellschaftlich nachvollziehbarem „allgemeinen Lebensrisiko“ ausgegangen werden kann. Ein solches Vorgehen setzt sinnvollerweise auf klare zeitliche und sachliche Etappenziele, um gegenüber der jetzigen Beschränkungsstrategie Öffnungsperspektiven zu bieten. […]
Die anstehenden Entscheidungen [können und dürfen] nicht allein auf (natur-) wissenschaftlicher Basis erfolgen. […] Es widerspräche auch dem Grundgedanken demokratischer Legitimation, würden politische Entscheidungen umfassend an die Wissenschaft delegiert. […] Denn wissenschaftliche Erkenntnisse geben keine hinreichende Auskunft über die Art und Weise ihrer Anwendung. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. […]
Auch in Katastrophenzeiten hat der Staat die Fundamente der Rechtsordnung zu sichern. Weniger noch als selbst zahlreiche tragische Entscheidungen in Lebens- und Sterbensnotfällen könnten Staat und Gesellschaft eine Erosion dieser Fundamente ertragen. […] Solche Abwägungen, die immer auch Nützlichkeitserwägungen einschließen, sind ethisch einerseits unabdingbar, andererseits nur insofern zulässig, als sie keine Grund- und Menschenrechte oder weitere fundamentale Güter auf Dauer aushöhlen oder sogar zerstören. Auch der gebotene Schutz menschlichen Lebens gilt nicht absolut. Ihm dürfen nicht alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos nach- bzw. untergeordnet werden. Ein allgemeines Lebensrisiko ist von jedem zu akzeptieren. […] In normativer Hinsicht wird damit zum Ausdruck gebracht, dass jede Grundrechtseinschränkung zu jedem Zeitpunkt rechtfertigungsbedürftig ist. […]
Zu betonen ist, dass die genannten sozialpsychologischen Aspekte durchaus auch Einfluss haben auf die normative Bewertung der Angemessenheit bzw. Zumutbarkeit von Freiheitsbeschränkungen. […] Auf längere Sicht ist es selbst für eine gefestigte Demokratie problematisch, in einem Zustand zu verharren, in dem insbesondere die gerade als Korrektiv und Impulsgeber für die demokratischen Prozesse gedachten Grundrechtsgarantien weitgehend außer Kraft gesetzt sind, […]
[…Überwiegen] gesundheitliche, wirtschaftliche und psychosoziale Schäden […] endet die Legitimität der Strategie.
[…Solche ] Überlegungen bedürfen der ernsthaften gesellschaftlichen Debatte auch schon in Zeiten der Krise. Dabei wird auch zu erörtern sein, welche Lebensrisiken eine Gesellschaft als akzeptabel einzustufen gewillt ist und welche nicht.”
Das ifo-Institut veröffentlicht kurz darauf am 02. April ‘Die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie tragfähig gestalten’ [PDF]:
“Dabei müssen wir die virologisch-medizinische Betrachtung der Pandemie um andere Perspektiven erweitern, was insbesondere bedeutet, auch die Kosten und Kollateralschäden in den Blick zu nehmen, die der derzeitige weitgehende Stillstand des öffentlichen Lebens mit sich bringt. Der damit verbundene Schaden geht weit über bloße Wirtschafts- und Wohlstandseinbußen hinaus. In Rechnung zu stellen sind vor allem die großen sozialen, medizinischen und politischen Kosten, die ein längerer Shutdown mit sich bringt. “ [S. 2]
“Insbesondere ist derzeit nicht zu klären, welche der vielen Maßnahmen welchen kausalen Anteil an einem Erfolg haben werden.” [S. 3]
“Wenn wir davon ausgehen würden, dass es keine sehr hohe Dunkelziffer gibt und dass ca. 70% der Bevölkerung die Erkrankung durchgemacht haben müssen […] und wenn wir schließlich die gesamte derzeitige Kapazität an Intensivbetten (ca. 30.000) allein für COVID-19-Patienten für jeweils eine Woche reservierten (was kaum realistisch ist), dann würde unser Gesundheitssystem ca. 600.000 neu Infizierte pro Woche verkraften können. Das würde für eine 70% Immunität in der Bevölkerung zwei Jahre bedeuten. […]
Mittlerweile sind Großbritannien und die Niederlande […von der] Strategie abgerückt, [die Ausbreitung des Virus zuzulassen, um so eine natürlich erworbene Immunität entstehen zu lassen] während Schweden sie weiterhin verfolgt. Diese Entwicklung gilt es sorgsam zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen. […]
“Der [aus den Maßnahmen] resultierende medizinische Schaden ist schwer zu quantifizieren, wird aber wahrscheinlich mit zunehmender Dauer exponentiell wachsen und zu erheblich steigender Morbidität und Mortalität führen.” — S. 4
“[Auch] würde eine einseitige Bevorzugung der COVID-19-Patienten im Gesundheitssystem […] die Versorgung von Patienten mit allen anderen Erkrankungen wie Krebs, Herz-Kreislauf- oder Autoimmunerkrankungen etc. entsprechend verschlechtern. […]
“Die Kosten liegen bei einem einmonatigen Shutdown und danach schrittweiser Erholung der Wirtschaft zwischen 4,3 und 7,5 Prozent des BIP (ca. 150–260 Mrd. Euro). Die Verlängerung um eine Woche würde die Kosten um 0,7–1,6 Prozent des BIP (25–57 Mrd. Euro) steigern. Bei einem dreimonatigen Shutdown würden die Kosten zwischen 10 und 20,6 Prozent des BIP liegen (354–729 Mrd. Euro).” [S. 5]
“Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit haben darüber hinaus massive gesundheitliche und soziale Kosten in Form vermehrter physischer und psychischer Erkrankungen und verkürzter Lebenserwartung.” [S. 6]
[Den medizinischen Teil lasse ich aus, dieser ist in dem Thesenpapier, Quelle ⁶, besser beschrieben]
“Dabei wäre es zu kurz gegriffen, wenn man hier allein der Logik eines maximalen Infektionsschutzes folgen wollte. Vielmehr sind für die Gesamtabwägung neben den massiven Grundrechtseinschränkungen selbst vor allem auch mittelbare Auswirkungen der Verbotsmaßnahmen sowie deren nicht-intendierte Nebenfolgen zu berücksichtigen. […] Entscheidend ist allein, dass man eine solche Gesamtbetrachtung vornimmt und nicht den seuchenpolizeilichen Imperativ absolut setzt.” [S. 20]
“Die bislang ergriffenen Maßnahmen sind überwiegend eher pauschal, undifferenziert und wenig punktgenau ausgefallen. So stellt sich die Frage, ob die in diesem Papier vorgeschlagene Differenzierung nach Sektoren, Personen und Regionen womöglich eine unzulässige Ungleichbehandlung und damit einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz darstellt. Die Antwort fällt eindeutig negativ aus. Denn Differenzierung ist nicht nur das Gebot der Stunde, sondern auch die von Verfassung wegen gebotene Antwort.” [S. 21]
“Es ist eine vielfältige Expertise aus Wissenschaft und aus den relevanten gesellschaftlichen Bereichen erforderlich. Dazu gehört etwa die Expertise der Infektiologie, Epidemiologie, Intensivmedizin, Wirtschaftswissenschaften, Rechtswissenschaften (insbesondere Verfassungsrecht), Technikwissenschaften, Informatik, Soziologie, Psychologie, Ethik und Sozialarbeit.” [S.24]
Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags folgt — ohne große Öffentlichkeit — am 08. April mit der Ausarbeitung zu Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz [PDF, Quelle ⁴]:
“Es stellt sich die Frage, ob die in solchen Verordnungen enthaltenen wesentlichen Ge- und Verbote mit dem Grundgesetz vereinbar sind […]” [ S. 5 oben]
Insgesamt spricht die Rechtsprechung daher von „massiven Eingriffen“ und kommt zu der Feststellung, „dass die in der Hauptsache angegriffenen Normen außerordentlich weitreichende […] Einschränkungen der Freiheitsrechte sämtlicher Menschen begründet. […]” [S.14 oben]
“Es wäre fatal, wenn wir wegen offensichtlicher Mängel in der Ressourcenbeschaffung länger auf extreme Eingriffe in die Freiheit aller angewiesen sein sollten und den Menschen keine anderen Mittel anbieten könnten, die weniger tief in ihre Freiheit einschneiden. Da sehe ich eine vermeidbare Gefahr der Erosion des Rechtsstaats.“ & „Das geht im Moment nicht anders, kann aber nicht auf Dauer gelten. Es muss alles getan werden, um Art und Ausmaß der Gefahren genauer einzugrenzen. Politik und Verwaltung müssen immer wieder prüfen, ob es weniger einschneidende Maßnahmen gibt. Auf Dauer kann man eine solche flächendeckende Beschränkung nicht hinnehmen. Das muss befristet sein.“ [zitiert wird an zwei Stellen der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans Jürgen Papier in einem Interview mit der SZ vom 01.04.20] [ S.19 unten & S.24 unten]
“Insgesamt ist die Erforderlichkeit der Kontaktbeschränkungen durchaus umstritten. So weist [der] Verfassungsrechtler [Dietrich Murswieck] auf Folgendes hin:
”Wenn alte und vorbelastete Menschen isoliert werden, können sie wirksam geschützt werden, ohne alle anderen Menschen ebenfalls zu isolieren. Es wäre noch nicht einmal notwendig, sie in die Quarantäne zu zwingen. […] Sie gefährden nur sich selbst, wenn sie sich durch soziale Kontakte dem Infektionsrisiko aussetzen. Deshalb würde es ausreichen, dass man ihnen eine freiwillige Quarantäne empfiehlt und ihnen Hilfen anbietet, die Quarantäne durchzuhalten, […] Gezielte Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen bieten sich somit als freiheitsschonende Mittel an, die die Betroffenen nicht weniger, vielleicht sogar besser schützen, als die Inpflichtnahme der gesamten Bevölkerung.“ & “Auch die Verhältnismäßigkeit hat eine zeitliche Dimension. Freiheitseinschränkungen können verhältnismäßig sein, wenn sie nur kurze Zeit dauern. Je länger sie dauern und je größer die Schäden, die durch sie verursacht werden, desto größer ist die Rechtfertigungslast für den Staat, der sie anordnet. Die Schäden des Shutdowns werden mit jedem Tag größer.” & “Vergleicht man die potentielle Zahl der Corona-Toten mit den Zahlen der Grippe-Toten oder [anderen], die der Staat hinnimmt, ohne einzugreifen, dann fragt man sich, warum gerade zur Abwehr von Coronainfektionen volkswirtschaftliche Schäden in Kauf genommen werden sollen, die zum ökonomischen Kollaps führen […], warum hier […] Freiheiten blockiert werden in einem Maße, das man zur Abwehr anderer Risiken nicht im entferntesten kennt. Das müsste die Politik begründen, weil Freiheitseinschränkungen begründungsbedürftig sind. Aber sie liefert die Begründung nicht, und sie kann sie nicht liefern.“ [zitiert wird D. Murswieck auf Tichys Einblick vom 31.03.2020 ] — [S.22 oben & S.25 oben & S.30 oben]
“Allein die auf wesentliche Grundrechte und Eingriffe beschränkte Prüfung ergibt Eingriffe in 17 verschiedene Freiheitsrechte. Die Vielzahl der durch die Ausgangssperren eingeschränkten Grundrechte und die Vielzahl der hiervon betroffenen Bürger könnte ein Abwägungskriterium sein. […]
Ausgeblendet werden vor allem alle nichtvirologischen Wirkungen des Shutdowns: die Bildungsverluste bei Schülern und Studenten, die immensen ökonomischen Schäden, die Gefährdung der Existenzgrundlagen Hunderttausender Kleinunternehmer, die gesundheitlichen Folgen des Bewegungs- und Lichtmangels infolge von Homeoffice und Ausgangsbeschränkungen, die Verluste an Sozialkontakten, die Dramen, die sich aus dem permanenten Zusammenleben auf engstem Raum in den Haushalten entwickeln werden. Ausgeblendet sind auch die Auswirkungen auf politische Teilhaberechte, auf demokratische Öffentlichkeit, auf all das, was das Bundesverfassungsgericht als notwendige Bedingung der Demokratie hervorgehoben hat.” [S.29 unten]
“ „Natürlich wird mittelfristig viel dafürsprechen, nach Risikogruppen zu differenzieren und denjenigen Personengruppen, die durch das Corona-Virus besonders gefährdet sind, mehr an eigener Freiheitsbeschränkung abzuverlangen als den anderen. […] Unabhängig von der Dauer der Maßnahmen ist fraglich, ob die Summe der Ge- und Verbote den Bürgern nicht das „soziokulturelle Existenzminimum“ nimmt und insoweit gegen die Menschenwürde verstößt.” [S. 38 mitte]
“Überhaupt ist der derzeit verbreiteten Vorstellung entgegenzutreten, dass bei den notwendigen Abwägungsentscheidungen Gesundheit und Leben apriorisch höherrangig sind als andere Verfassungsgüter. Auch wenn es schwerfällt: Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) steht unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt.“ [zitiert wird Thorsten Kingreen auf verfassungsblog.de vom 20.03.2020 ] [S.41 mitte]
“Einige der Kontaktbeschränkungen dürften hiernach erheblich problematisch oder wohl verfassungswidrig sein.” [S.42 oben]
Das oben in Kapitel 2 bereits zitierte Thesenpapier 3.0 [PDF, Quelle ⁶-³] vom Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft — IMVR der Universität Köln führt am 05. August aus:
“Das am 28. 3. 2020 in Kraft getretene, im Eilverfahren verabschiedete […] erweiterte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, [hat] zu einer erheblichen Veränderung des bisher geltenden IfSG geführt […].
[Es ist] von eminenter politischer und verfassungsrechtlicher Bedeutung, dass die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes die Gewichte zwischen Legislative und Exekutive verschiebt. Diese Verschiebung stößt auf erhebliche juristische Bedenken und demokratietheoretische Zweifel […]
Spätestens hier halten selbst wohlwollende Rechtswissenschaftler die Grenzen des Artikel 80 Abs.1 Satz 2 GG hinsichtlich der Bestimmung von Inhalt, Zweck und Ausmaß für überschritten. Aber auch für alle anderen Ermächtigungsnormen gilt, dass sie mit äußerster Zurückhaltung auszulegen und anzuwenden sind, vor allem wenn und soweit sie in Grundrechte eingreifen. […]
Gerade in Krisenzeiten haben die Bürgerinnen und Bürger […] einen Anspruch darauf, dass der Staat in allen Fragen […] penibel alle Formen wahrt sowie Kritik demokratisch aufnimmt und nicht mit Illoyalität verwechselt. „Der Notfall, den es zu bekämpfen gilt, bedarf der Überprüfung; die Maßnahmen, die er rechtfertigen soll, umso mehr“ . „Beispiellose Freiheitseingriffe bedürfen beispielloser Transparenz“. […]
Je länger Regelungen, insbesondere solche mit Grundrechtseinschränkungen, schon in Kraft sind, umso stärker wirkt die Verpflichtung zur kontinuierlichen Überprüfung ihrer Grundrechtsvereinbarkeit. Zu prüfen sind folgende Voraussetzungen: Gibt es einen verfassungslegitimen Zweck und sind die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit = Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gegeben? Die Beschränkungen individueller Freiheiten sind mit dem erwarteten Nutzen der getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen.” [S. 6]
“Selbst wenn eine Maßnahme von vornherein zeitlich befristet ist, besteht eine Pflicht zur regelmäßigen Evaluierung, insbesondere im Hinblick auf die Erforderlichkeit und die Angemessenheit. Sollte sich die Unverhältnismäßigkeit einzelner Regelungen herausstellen, sind diese isoliert unverzüglich auch vor Ablauf des Geltungszeitraums eines Gesamtpakets aufzuheben. Schließlich besteht auch Einigkeit, dass viele der von Bund und Ländern erlassenen Rechtsakte erhebliche Eingriffe in wesentliche Freiheitsrechte der Menschen in Deutschland bedeuten. […]
In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, wann spezifische Präventionsmaßnahmen für besonders gefährdete Risikogruppen allgemeine Gebote und Verbote abmildern oder ersetzen können. Vor allem aber ist mit zunehmender Dauer der Freiheitsbeschränkungen immer wieder zu prüfen, ob diese nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit begründet sicher besondere Schutzpflichten des Staates, ist aber nicht per se anderen Grundrechten übergeordnet. Vor allem ist es nicht zulässig, Leben gegen Leben aufzurechnen und abzuwägen.” [S. 7]
“Aus dem Schutz der Menschenwürde, dem Grundprinzip der Verfassung nach Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, leitet das BVerfG die Voraussetzung ab, dass der Mensch in seiner fragilen und individuellen und sozialen Existenz über sich nach eigenen Maßstäben verfügen kann und nicht in Lebensformen gedrängt werden darf, die in einem unauflösbaren Widerspruch zum eigenen Selbstbild und Selbstverständnis stehen. Der Mensch darf dabei nicht zu einem Objekt staatlichen Handels herabgewürdigt werden. Einige der ergriffenen Maßnahmen, speziell deren noch weitgehend unerforschte gesundheitliche und soziale Wirkungen, bergen zumindest ein solches Potenzial.” [S. 8]
Und nun?
Die Politik wird weiter unbeirrt so handeln wie bisher, vermute ich.
Ich gieße die Erkenntnisse aus diesem Artikel in den Teil 5 meiner Vorbereitung der Verfassungsbeschwerde. [Link folgt]
Der ganz aufmerksame Leser fragt sich: und was ist mit dem Logo mitte unten auf dem Titelbild? Danke der Nachfrage! Es ist eben doch keine nur typisch deutsche Spinnerei, sich um Grund- und Menschenrechte Sorgen zu machen.
Danke für die Aufmerksamkeit
Unglaublich. Da ist dieser Artikel ein paar Tage fertig, und gleich mehrere wichtige Quellen erfahren ein wesentliches Update oder eine Überarbeitung oder erscheinen neu:
- Am 09.09. gab es eine Anhörung vor dem Gesundheits-Ausschuß des Bundestags. Der als Einzel-Sachverständiger geladene Prof. Kingreen zerreißt das Neue Infektionsschutz-Gesetz nicht in der Luft, er macht Konfetti daraus! [PDF]. Rechtssicher wie der aktuelle Bußgeld-Katalog…
- Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin, Quelle ⁵, veröffentlicht am 08.09. eine Neufassung Ihrer Stellungnahme zu COVID-19
- Das Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft — IMVR der Universität Köln, Quelle ⁶, veröffentlicht am 30.08. das Thesenpapier 4.0 [PDF]
- Im Text zitiere ich eine Studie der Charité, Quelle ⁸, die Kreuzimmunität in nennenswerten Teilen der Bevölkerung feststellt, um nun eine Studie der TU Tübingen vom 16.06. zu entdecken, die diese Keuzimmunität in mehr als doppelt so hohem Umfang findet.
Ich denke, aus Platz- und Zeitgründen sollte ich diese hier gar nicht mehr einfügen, sondern gleich einen Teil 2 schreiben…
Aufgrund ihrer inhaltlichen Wichtigkeit hier nochmal die wesentlichen
Quellen in diesem Artikel:
¹ Guide to public health measures to reduce the impact of influenza pandemics in Europe [PDF] vom Juni 2009 vom European Centre for Disease Prevention and Control
² Nationaler Pandemieplan [PDF] für Deutschland aus 2017, erstellt vom Robert-Koch-Instititut, sowie die Ergänzung vom 04.03.2020 [PDF]
³ Studie zu nicht-pharmazeutische Maßnahmen der Öffentlichen Gesundheit zur Bekämpfung von Pandemien [PDF] mit Übersichtenanhang [PDF] vom Oktober 2019 von der World Health Organization
⁴ WD 079/2020 Ausarbeitung Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte [PDF] des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages (Suchfilter: ‘Verfassung, Verwaltung’ & ‘Ausarbeitung’ & Datum 08.04.2020)
⁵ Stellungnahme des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin vom 15.04.2020
⁶ Thesenpapier zur Pandemie durch SARS-CoV-2/Covid-19 — Version 1.0 vom 05.04.2020 ⁶-¹ [PDF], Version 2.0 vom 03.05.2020 ⁶-² [PDF] zu finden beim Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft — IMVR der Universität Köln sowie Version 3.0 vom 05.08.2020 ⁶-³ [PDF] zu finden auf SpringerLink.com und der zu dieser Reihe gehörende Artikel Eine erste Bilanz vom 08.07.2020 ⁶-⁴ [PDF] zu finden beim Monitor Versorgungsforschung
⁷ ‘COVID-19: high risks, high prevalence, high-level evidence, and high-stake decisions’ webinar vom 22.06.2020 der Standford University mit Dr. John Ioannidis (Aufzeichnung verfügbar z.B. hier auf youtube.com)
⁸ ‘SARS-CoV-2-reactive T cells in healthy donors and patients with COVID-19’ [PDF] Studie vom 09.04., veröffentlicht am 29.07.2020 auf nature.com