Auf dem Weg zum Verfassungsgericht — Teil 5 von 8: Verfassungsrechtliche Bedenken
Verfassungsbeschwerde für Dummies¹ — ein Echtzeit-Lehrgang in der Wirklichkeit mit ungewissem Ausgang — Stand 06.02.2021
— ¹ Dummies meint natürlich nicht uns Bürger, sondern bezieht sich auf die berühmte Ratgeber-Serie für Anfänger von Allem —
[UPDATE 04.01.21]: Nach der Beschäftigung mit dem Thema Corona-Epidemie in Form von Artikeln über die Medien, über die Politik, über die Maßnahmen und die möglichen Lösungen sowie über die Aspekte Kulturkampf um die Maske, Grundrechtseinschränkungen und die völlig vergessene Kreuzimmunität habe ich schon länger aufgehört nur zu lesen, zu diskutieren, zu demonstrieren und ansonsten hauptsächlich warten, sondern werde selber gegen die verfassungswidrigen Teile der Maßnahmen klagen. Mit Fertigstellung dieses Teil ist klar: dies ist der Lockdown, die Maskenpflicht und weitere Maßnahmen — und, wenn es mir gelingt, auch Teile des IfSG! [ENDE UPDATE]
Bearbeitungsstand offener Fragen dieses Artikels
offene Fragen: 4
beantwortete Fragen: 5
Was bisher geschah
Alles über die Absicht, den Zweck und Aufbau sowie Struktur der Artikel steht in Teil 1. Bitte dort nachsehen. In dieser Serie gibt es keine Rosinen. Die Artikel sind nur in der beabsichtigten Reihenfolge sinnvoll zu lesen.
Bisher entstandene und künftige Artikel:
- Teil 1 von 8: Formale Anforderungen
- Teil 2 von 8: Annahme zur Entscheidung
- Teil 3 von 8: Hürde Subsidiaritätsprinzip
- Teil 4 von 8: Eilantrag & Folgenabwägung
- Teil 5 von 8: Verfassungsrechtliche Bedenken [dieser Text hier]
[UPDATE 04.01.21]: - Teil 6 von 8: Die Epidemiologische Lage
Teil 6 wird weiter aufgeteilt in:
- Teil 6.1: Die epidemiologischen Eigenschaften von SARS-CoV-2
[Link folgt] - Teil 6.2: Die Kreuzimmunität
- Teil 6.3: Die Letalität von COVID-19
- Teil 6.4: Der PCR-Test und die 7-Tages-Inzidenz
- Teil 6.5: Der Lockdown [Link folgt]
- Teil 6.6: Die Maskenpflicht
[ENDE UPDATE] - Teil 7 von 8: Prognose-, Ermessens-, und Handlungsspielraum
[Link folgt] - Teil 8 von 8: Die Verfassungsbeschwerde
Zuerst, in chronologischer Reihenfolge, die wichtigsten verwendeten
Quellen in diesem Artikel:
⁰ verfassungsblog.de mit mehreren Beiträgen ab mitte März von diversen Autoren — die Links sind jeweils beim Zitat zu finden
¹ WD 079/2020 Ausarbeitung Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte [PDF] des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages
(Suchfilter: ‘Verfassung, Verwaltung’ & ‘Ausarbeitung’ & Datum 08.04.2020)² Stellungnahme zum neuen IfSG-Entwurf [PDF] von Prof. Thorsten Kingreen vom 11.05.2020 vor dem Gesundheits-Ausschuss des Bundestags
³ ‘Das Neue Infektionsschutzrecht’, 24.06.2020, Prof. Sebastian Kluckert [Hrsg.], Nomos-Verlagsgesellschaft Baden-Baden, ISBN 978–3848776146
⁴ Stellungnahme zu den Maßnahmen [PDF] von Prof. Thorsten Kingreen
vom 09.09.2020 vor dem Gesundheits-Ausschuss des Bundestags
Aufbau dieses Artikels
Dieser Artikel war zuerst geplant als ‘Inhalt der Verfassungsbeschwerde’ d.h. die Zusammenführung der Fragestellungen Ziel der Verfassungsbeschwerde, tatsächliche epidemische Lage (mit der Betonung des Bundesverfassungsgerichts auf ‘tatsächlich’), sowie der Prognose-, Ermessens- und Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers innerhalb der tatsächlichen epidemische Lage und die vorsätzliche Fahrlässigkeit des Gesetzgebers (auch wenn es diese so noch nicht gibt):
Was 2020 in Deutschland geschieht, ist vorsätzliches Verschieben der o.g. Spielräume durch fahrlässig unrichtige Kenntnis der epidemischen Lage.
Bei den Vorbereitungen hierzu (Teile 1–4 dieser Reihe und der Artikel ‘Was wäre die Lösung?’) bin ich auf dermaßen viele (verfassungs)rechtliche Probleme gestoßen, daß es m.E. zielführender ist, diese ebenfalls zunächst nach Themen und Gewicht zu sortieren, bevor die o.g. Zusammenführung im nächsten Artikel erfolgt.
Inhalt dieses Artikels
0. Perlen aus dem ‘Neuen Infektionsschutzrecht’
1. Die Würde des Menschen
1.1 Frühe verfassungsrechtliche Bedenken
1.2 Verfassungsrechtliche Bedenken des Bundestags
2. Verfassungsrechtliche Probleme
2.1 Grundrechte und Eingriffe
2.2 Verfassungswidrigkeit des Infektionsschutzgesetzes
2.2.1 Kollision des IfSG mit Artikel 80 Grundgesetz
2.2.2 Verstöße gegen das Bestimmtheitsgebot
2.2.3 Verstöße gegen die Wesentlichkeitstheorie und die Gewaltenteilung
2.2.4 Problem Generalklauseln §16 und §28 IfSG
2.3 Fragen zum Rechtsverständnis der Regierung
2.4 Problem Wissenschaft als Berater der Politik
2.4.1 Die Epidemiologische Lage
2.4.2 Der Ermessenspielraum
2.5 Probleme der Maßnahmen zur Bekämpung der Pandemie
2.6 Gesellschaftliche Folgen der Maßnahmen
0. Perlen aus dem ‘Neuen Infektionsschutzrecht’
In dem Buch ‘Das Neue Infektionsschutzrecht’ [Quelle ³] enthält viele wichtige Informationen, die ich im Folgenden zitiere. Da es sich über lange Strecken um staubtrockene Lektüre handelt, ist es umso erbaulicher, daß in dem Buch auch Perlen von Zitaten zu finden sind.
Da es dabei um hochgradig problematische Maßnahmen geht, mag ich einige Zitate einfach nicht auslassen, auch wenn ich sie inhaltlich nicht weiter verfolge:
“Es [handelt] sich bei den Bekämpfungsmaßnahmen um die schwersten Grundrechtseingriffe seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland.” *¹ [S.81]
“Die Maßnahmen stellen schwerste Grundrechtseingriffe [und “bislang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispiellose Beschränkungen grundrechtlich geschützter Freiheiten sämtlicher Menschen”*] dar.” *¹ [S.90 /* S.91]
*¹ Ja, und? — wer absichtlich hier ist, wird eine solche Aussage nicht bemerkenswert finden. Der Kontext zählt hier: es handelt sich hier eigentlich um ein staubtrockenes Fachbuch!
“Die […] im Rahmen der Überprüfung von Maßnahmen ergangenen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz zeigen auf, dass eine die staatlichen Befugnisse begrenzende Wirkung der Verhältnismäßigkeit im Falle der Epidemie […] weitgehend ausfiel.” *² [S.95]
“Die Sicherstellung eines echten Freiheitsniveaus für alle Bürgerinnen und Bürger ist mit [den bisherigen Gerichtsentscheidungen] kaum verbunden.” *² [S.102]
*² Nochmal: die Deutlichkeit der Aussagen in einem solchen Buch sind erstaunlich! (Der Schreibstil ist üblicherweise so: “Die Frage, ob die Ermächtigungsgrundlage in ihrer derzeitigen Form ein weitgehendes Verbot der Grundrechtsausübung tragen kann, ist nicht mit einem uneingeschränkten „Ja“ zu beantworten.” [S.324] )
“Es wäre geradezu unwissenschaftlich zu glauben, dass ausgerechnet die Wissenschaft der Epidemiologie die eine richtige Wahrheit kennt.” *³ [S.109]
*³ Jetzt forciert der Autor seine Aussagen aber wirklich sehr!
“Dass beide rechtsstaatlichen Sicherungselemente bei § 30 Abs. 1 IfSG im Gesetzestext fehlen, findet seinen Grund in einer abenteuerlichen Fehlvorstellung im Gesetzgebungsverfahren zum IfSG. [Dort] findet sich in der Begründung die Aussage: „Die in Absatz 1 geregelte Absonderung setzt die Freiwilligkeit des Betroffenen und damit seine Einsicht in das Notwendige voraus.“ Offensichtlich soll es sich wegen der behaupteten „Freiwilligkeit“ noch nicht einmal um einen Grundrechtseingriff handeln. Die offenbarte (Fehl-)Vorstellung dient wohl dazu, eine mit dem Grundrechtsverständnis der 1950er Jahre geschaffene Regelung unbeschadet in das neue Jahrtausend zu überführen.” *⁴ [S.115]
*⁴ Offene, harsche Kritik! Was kommt als Nächstes? Aufrufe zur Revolution?
“[Es ergeben sich] erhebliche [,“allerhöchste"*] verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Zulässigkeit dieser Ermächtigungsnorm, denn [ihr Umfang ist] fast nicht einzugrenzen [und führt zu einer “beispiellosen Steuerung des gesamten gesellschaftlichen Lebens”**] Und dies bei massiven Eingriffen in die Grundrechte der Betroffenen.” *⁵ [S.214 /* S.221/**S.224]
*⁵ Die Autoren haben sich, so scheint es, warmgelaufen.
[Die] Wirksamkeit [von Masken] zur Verringerung der Infektionszahlen [ist] wissenschaftlich bislang nicht nachgewiesen […]. *⁶ [S.296]
*⁶ Stand Juni 2020. Und anscheinend ohne die Annahme, daß sich dies bald ändern wird, sonst wäre da alles voller Konjunktive.
“Die Entwicklungen um die Corona-Pandemie 2020 haben zu beispiellosen flächendeckenden Grundrechtseinschränkungen geführt. Hierbei ist der Begriff der Grundrechtseinschränkung durchaus euphemistisch gewählt, handelte es sich in weiten Teilen um vollständige Verbote, denen nur durch ihre Befristung eine gewisse Milderung zuteilwurde. Die hiermit verbundenen Rechtsprobleme sind derzeit nicht ansatzweise aufbereitet.” *⁷ [S.325]
*⁷ Keine weiteren Fragen.
1. Die Würde des Menschen
Steht im Grundgesetz am Anfang von Allem.
Muss auch hier an den Anfang — auch wenn ich gestehen muss, daß ich noch nicht weiß, wohin das führen soll oder wird.
Mein Gedanke ist:
Maskenpflicht und Würde des Menschen sind nicht vereinbar
Warum? Man ersetze Maskenpflicht durch Verschleierung oder Burka. War jahrelang ein Riesen-Aufreger in den Medien und im ganzen Land. Nein, das darf nicht sein! — unsere Leit-Kultur, die Unterdrückung der Menschen!
Was wird denn in Ausweisdokumenten abgebildet? Das Gesicht! Der sichtbare Kern unserer Identität. Die Unverhülltheit unseres Angesichts war mal zentraler Bestandteil unserer Kultur.
War? Ja: war, freiwillig geht die Maskenpflicht doch nicht mehr weg! Von etwa heute bis Ostern: Grippe-Hochsaison! — und im April wurde sie dieses Jahr ja gerade erst eingeführt. Macht eine maskenfreie Woche im Jahr.
Irgendwas stimmt hier doch nicht.
Rechtlich ist die Würde des Menschen ein sehr schwer zu fassendes Thema. In den o.g. Quellen findet sich nur wenig, und auch fast nichts Konkretes:
‘Zwangweise Heilbehandlungen’ scheitern an der Würde des Menschen und das Abschießen eines entführten Passagierflugzeugs zur Rettung anderer Menschen (Thema 9/11) ebenfalls.
Unabhängig von der Dauer der Maßnahmen ist fraglich, ob die Summe der Ge- und Verbote den Bürgern nicht das „soziokulturelle Existenzminimum“ nimmt und insoweit gegen die Menschenwürde verstößt.” *⁸ [Quelle¹, S. 38]
“Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG ist ein unmissverständlicher Nachweis dafür, dass das Grundgesetz auch das menschliche Leben in extremen Situationen für antastbar erklärt. Nur die unantastbare Menschenwürde ist jeder Abwägung von vornherein unzugänglich.“ *⁹ [Quelle³, S. 81]
“Ebenso wenig wie in das Leben und die Gesundheit unter Beeinträchtigung der Menschenwürde eingegriffen werden darf, dürfen Leben und Gesundheit unter Beeinträchtigung der Menschenwürde geschützt werden“ *¹⁰ [Quelle³, S. 83]
[UPDATE 25.10.]:
*Beantwortete * FRAGEN:
*⁸ Was für ein Argument kann man daraus (dass die Summe der Ge- und Verbote möglicherweise gegen die Menschenwürde verstößt) ableiten?
— “Rechtspersonen haben Anspruch auf Achtung. Sie haben Anspruch darauf, als Personen respektiert zu werden. Der Menschenwürdesatz armiert [=verstärkt] dies und garantiert dem Einzelnen ein ‘Recht darauf, Rechte zu haben’ “ [Quelle: Universität Münster — ’Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff’, PDF]
Und wenn keine Rechte mehr übrig sind? Könnte eine Verletzung der Menschenwürde sein! Der Wissenschaftliche Dienst kommt in oben zitierter Ausarbeitung auf 17 eingeschränkte Grundrechte! [dort: S. 29]
*⁹ Was nützt diese Einschränkung?
— ‘Nützen’ ist das falsche Wort. Wird in die Menschenwürde eingegriffen oder wird sie verletzt, ist die Ursache verfassungswidrig. Keine Abwägung, keine Verhältnismäßigkeit, kein Spielraum. Game Over — diesmal andersherum. Auf juristisch: “Eine Grundrechtsprüfung am Maßstab der Menschenwürde endet demnach bei Schritt zwei, der Feststellung des Eingriffs, weil bereits aus dem Vorliegen des Eingriffs die Menschenwürdeverletzung gefolgert wird.”
[Bundeszentrale für Politische Bildung, ‘Bedeutung der Menschenwürde in der Rechtsprechung’]
*¹⁰ Wie ist das in der Verfassungsbeschwerde verwendbar?
— Puh. Das ist echt für Fortgeschrittene. Aber ich arbeite dran! Es gibt vorsichtige Hinweise: “Eine Schutzpflicht zu konstruieren, die nur dadurch erfüllt werden kann, dass in die Würde eines anderen eingegriffen wird, ist mit der herrschenden Meinung abzulehnen.” [Quelle: Universität Trier — ’Klausur-Lösungshinweise Luftsicherheitsgesetz’, PDF, S.9]
Das Problem ist hier, man muss keine Schutzpflicht konstruieren, sondern nach laufender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist Art. 2 GG (Recht auf Leben) eine Schutzpflicht des Staates. Interessant ist dieser Hinweis aber nach wie vor zusammen mit dem oben zitierten Verbot, “Leben und Gesundheit unter Beeinträchtigung der Menschenwürde” zu schützen.
Genauso gibt es aber Hinweise, “dass wegen der fundamentalen Bedeutung der Menschenwürde diese nicht dazu herhalten kann, schon Beeinträchtigungen von geringer Intensität abzuwehren.” [Bundeszentrale für Politische Bildung, ‘Schutz der Menschenwürde’] — dies bedeutet absehbar: nicht die Maskenpflicht, allenfalls die Gesamtheit aller Ge- und Verbote sind verfassungswidrig.
Was ist mit der Menschenwürde?
— Diese Frage stelle nicht nur ich mir, sondern diese ist ein bekanntes (siehe ‘Objektformel’) und gar nicht so einfach zu lösendes (und nicht einmal einfach zu findendes) Problem, mit dem sich sogar das Bundesverfassungsgericht herumschlägt:
“unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt sein kann, […] läßt sich nicht generell sagen, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falles.”
— Und “Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört Art. 1 GG zu den “tragenden Konstitutionsprinzipien”, die alle Bestimmungen des Grundgesetzes durchdringen. Das Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an. […]
[Die] Staatsgewalt darf [den Menschen] nicht “unpersönlich”, nicht wie ein Gegenstand behandeln, auch wenn [dies] in “guter Absicht” geschieht. Der Erste Senat dieses Gerichts hat dies dahin formuliert, es widerspreche der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und kurzerhand von Obrigkeits wegen über ihn zu verfügen”
[Quelle: Bundesverfassungsgericht 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68, BvR 308/69]
— Und “Kann man tatsächlich verfassungsrechtlich, im Wege der juristischen Subsumtion unter Artikel 1 Absatz 1 GG, entscheiden, was uns ein für alle mal erlaubt oder verboten ist und bleibt, oder ist jede dieser Entscheidungen eine Überforderung dessen, was Verfassungsrechtsprechung vermag?” [Bundeszentrale für Politische Bildung, ‘Bedeutung der Menschenwürde in der Rechtsprechung’]
Welche Rolle hat sie (die Menschenwürde) in diesem Themekomplex ?
— Zunächst diese: “Eine Verletzung der Menschenwürde kann [in der Behandlung des Menschen als Objekt] allein nicht gefunden werden. Hinzukommen muß, daß er einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder daß in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen liegt. Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine ‘verächtliche Behandlung’ sein.” [Quelle wie vor]
Wie wäre es hiermit?
Mein Dank geht an den Berliner Senat für die argumentative Unterstützung meiner Verfassungsbeschwerde.
[ENDE UPDATE]
1.1. Frühe verfassungsrechtliche Bedenken
In ‘Whatever it takes? — Der demokratische Rechtsstaat in Zeiten von Corona’, schreibt Prof. Dr. Thorsten Kingreen am 20.März auf verfassungsblog.de:
Die Gesundheit ist nicht höherrangig als andere Verfassungsgüter
“Ein allgemeines, von konkret-individuellen Gefahren unabhängiges und in seiner Dauer nicht befristetes Fortbewegungsverbot deckt die Norm nicht.*¹¹ […]
Die durch [die] Allgemeinverfügung angeordneten flächendeckenden Ausgangsbeschränkungen, wie sie jetzt […] verordnet wurden, [sind] rechtswidrig.*¹¹ […]
“Überhaupt ist der derzeit verbreiteten Vorstellung entgegenzutreten, dass bei den notwendigen Abwägungsentscheidungen Gesundheit und Leben apriorisch höherrangig sind als andere Verfassungsgüter.*¹² Auch wenn es schwerfällt: Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) steht unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt.“
*¹¹ Auf deutsch: die Ausgangssperren sind verfassungswidrig.
*¹² Die Unterordnung von Allem (durch Aufhebung der Grundrechte, durch faktische Berufsverbote und Schließung von ganzen Geschäftsbranchen) unter Leben und Gesundheit ist nicht vom Grundgesetz gedeckt.
Prof. Christoph Möllers, schreibt am 26. März auf verfassungsblog.de über die ‘Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus’:
Massive verfassungsrechtliche Zweifel am IfSG
“Der Bundestag [hat] am 25. März [das neue] Infektionsschutzgesetz [beschlossen]. Dass dies ohne massive verfassungsrechtliche Zweifel geschehen ist, wird man nicht glauben können.*¹³ […]
*¹³ Das IfSG ist (in Teilen) verfassungswidrig.
[Die] Ansicht, das Land ließe sich mit Hilfe einer Generalklausel dicht machen, erscheint einigermaßen kurios.*¹⁴ […]
Das [Infektionsschutz]Gesetz gibt diese Maßnahmen schlicht nicht her, sonst hätte es das Verhältnis von Standardmaßnahmen zur Generalklausel anders ausgestaltet.*¹⁵ […Die Einsicht, dass] der massivste kollektive Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik ohne angemessene gesetzliche Grundlage *¹⁶ erfolgen kann, weil er in der Sache richtig ist, könnte das Legalitätsverständnis in einer Weise erschüttern wie kein Ereignis [der letzten hundertfünzig Jahre…].
*¹⁴ Die Generalklauseln des IfSG sind verfassungswidrig.
*¹⁵ Die Generalklauseln des IfSG sind schlampig formuliert.
*¹⁶ Das Infektionsschutzgesetz ist schlampig formuliert.
“Dass ein Ministerium Gesetze nicht nur konkretisieren, sondern aufheben kann, ist aber keine Frage der Genauigkeit der Verordnungsermächtigung mehr.*¹⁷ Diese muss sich darauf beziehen, dass die Bundesregierung unter genau definierten Bedingungen Verordnungen erlassen kann, die […aber] dessen Regelungen nicht außer Kraft setzen können. […]
Hier geht es […] um die Derogierung [=teilweisen Außer-Kraftsetzung] großer, nicht abgegrenzter Teile des Gesetzes. Mit Art. 80 Abs. 1 GG ist das nicht zu vereinbaren. *¹⁸ […]
Irritierend ist schließlich der Verzicht auf eine letzte demokratische Koordinationsstelle, auf das Bundeskabinett. […] Diese Überlegungen zur demokratischen Legitimation ändern nichts daran, dass es hier zunächst um Fragen harter Legalität geht.*¹⁸ ”
*¹⁷ Die Ermächtigung des Bundesgesundheitsministers durch das IfSG ist …
*¹⁸ … verfassungswidrig!
Man könnte versucht sein, diese Beiträge (dergleichen gibt es auf verfassungsblog.de Dutzende!) als ‘nur private’ Meinungen von Verfassungsrechtlern zu werten, jedoch werden und wurden diese Beiträge (wie auch das nachfolgende Interview) sowohl in der Fachliteratur, in Ausarbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags als auch in den (von mir viel zitierten) ‘Thesenpapieren’ so ausgiebig zitiert, daß sie allein dadurch schon einen ‘offiziellen’ Charakter erlangt haben.
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Hans-Jürgen Papier sagt in einem Interview mit der SZ vom 01. April:
Die Maßnahmen sind extreme Eingriffe in die Freiheit
“Es wäre fatal, wenn wir wegen offensichtlicher Mängel in der Ressourcenbeschaffung länger auf extreme Eingriffe in die Freiheit aller angewiesen sein sollten.” *¹⁹[auch S.19 in Quelle ¹]
“Auf Dauer kann man eine solche flächendeckende Beschränkung nicht hinnehmen. Das muss befristet sein.” [auch S.24 in Quelle ¹]
*¹⁹ In einem Nebensatz macht Herr Papier hier — nahezu unbemerkt — ein ganz großes Fass auf: ‘wegen offensichtlicher Mängel in der Ressourcenbeschaffung’. Was bedeutet das?
Im ‘Nationalen Pandemieplan’ von 2017 wurde ausgiebig die Erfordernis von Beschaffung und Bevorratung von Schutzmaterial für das Gesundheitswesen erörtert. Zweck: Schutz von Risikogruppen statt Einschränkungen für die gesamte Bevölkerung.
Und 2020, drei Jahre nach Vorliegen des Plans? Bundesgesundheitsminister Spahn sagt lapidar (am 25.03. im ZDF bei Lanz): Man habe ‘Hinweise übersehen’ und die ‘Knappheit war eine Riesenüberraschung’.
Prof. Papier sieht in diesem Versagen des zuständigen Ministers den Grund für den Lockdown des ganzen Landes!
Das gibt ein ganzes Kapitel in ‘Teil 6 - Die Epidemische Lage’! [Link folgt]
1.2. Verfassungsrechtliche Bedenken der Bundestags
Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags veröffentlicht am 08. April die Ausarbeitung zu Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz [PDF, Quelle ¹] in dem u.a. alle drei vorgenannten Beiträge aus Kapitel 1.1 zitiert werden (Ich habe daraus bereits in ‘Was wäre die Lösung?’ zitiert):
“Es stellt sich die Frage, ob die in solchen Verordnungen enthaltenen wesentlichen Ge- und Verbote mit dem Grundgesetz vereinbar sind.” *²⁰ [ S. 5]
Insgesamt spricht die Rechtsprechung daher von „massiven Eingriffen“ und kommt zu der Feststellung, „dass die in der Hauptsache angegriffenen Normen außerordentlich weitreichende […] Einschränkungen der Freiheitsrechte sämtlicher Menschen begründet.” [S.14]
*²⁰ Juristendeutsch. Normales Deutsch: ‘die in den Verordnungen enthaltenen Ge- und Verbote sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar’.
Die Maßnahmen sind nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren
“Insgesamt ist die Erforderlichkeit der Kontaktbeschränkungen durchaus umstritten: *²¹ […]
“Wenn alte und vorbelastete Menschen isoliert werden, können sie wirksam geschützt werden, ohne alle anderen Menschen ebenfalls zu isolieren. *²² Es wäre noch nicht einmal notwendig, sie in die Quarantäne zu zwingen. […] Sie gefährden nur sich selbst, wenn sie sich durch soziale Kontakte dem Infektionsrisiko aussetzen. Deshalb würde es ausreichen, dass man ihnen eine freiwillige Quarantäne empfiehlt […] Gezielte Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen bieten sich somit als freiheitsschonende Mittel an, die die Betroffenen nicht weniger, vielleicht sogar besser schützen, als die Inpflichtnahme der gesamten Bevölkerung.” *²³ [S.22]
*²¹ Stand der Wissenschaft April 2020: wenig Evidenz für die Wirksamkeit von Kontaktbeschränkungen!
*²² Die Autoren greifen hier zentrale Punkte aus dem Nationalen Pandemiplan von 2017 auf und aus den Thesenpapieren des IMVR (siehe ‘Was wäre die Lösung?’ für beide) vorweg.
*²³ Die Welt wäre ein andere -eine bessere!- wenn die Verantwortlichen sich an die Pläne für Pandemien und den Stand der Wissenschaft gehalten hätten! (Auch das gibt ein ganzes Kapitel in Teil 6)
Schutzkleidung statt Grundrechtseingriffe!
“Auch die Verhältnismäßigkeit hat eine zeitliche Dimension. Freiheitseinschränkungen können verhältnismäßig sein, wenn sie nur kurze Zeit dauern. Je länger sie dauern und je größer die Schäden, die durch sie verursacht werden, desto größer ist die Rechtfertigungslast für den Staat, der sie anordnet.*²⁴ Die Schäden des Shutdowns werden mit jedem Tag größer.” [S.25]
*²⁴ Sieht die Politik anders:
Im Herbst 2020 müssen zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen nicht einmal mehr die Grundrechenarten beherrscht werden:
50 ‘Fälle’ auf 100.000 Einwohner. Klingt nach 50/100.000, ist es aber nicht! Richtig sind: 50 auf x Tests je 100.000 Einwohner. Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung müsste der Wert bei den aktuellen Testzahlen von 50 auf 136 angehoben werden!
Nannte man früher (bis Februar 2020) Dreisatz.
Heute braucht man die Kompetenz eines Fachverbandes dafür.
“Vergleicht man die potentielle Zahl der Corona-Toten mit den Zahlen der Grippe-Toten oder [anderen], die der Staat hinnimmt, ohne einzugreifen, dann fragt man sich, warum gerade zur Abwehr von Coronainfektionen volkswirtschaftliche Schäden in Kauf genommen werden sollen, die zum ökonomischen Kollaps führen […], warum hier […] Freiheiten blockiert werden in einem Maße, das man zur Abwehr anderer Risiken nicht im entferntesten kennt. Das müsste die Politik begründen, weil Freiheitseinschränkungen begründungsbedürftig sind. Aber sie liefert die Begründung nicht, und sie kann sie nicht liefern.” *²⁵ [S.30]
[Zitiert wird hier drei mal D. Murswieck auf Tichys Einblick vom 31. März ]
*²⁵ Ziemlich klare Ansage eines Verfassungsrechtlers. Erstaunlich, wie ungefiltert sein Argument vom Wissenschaftlichen Dienst wiedergegeben wird.
“Allein die auf wesentliche Grundrechte und Eingriffe beschränkte Prüfung ergibt Eingriffe in 17 verschiedene Freiheitsrechte. Die Vielzahl der durch die Ausgangssperren eingeschränkten Grundrechte und die Vielzahl der hiervon betroffenen Bürger könnte ein Abwägungskriterium sein. *²⁶ […]
*²⁶ Abwägung auf einer neuen Ebene. Nicht: ist die Ausgangssperre oder das Kontaktverbot verhältnismäßig, sondern abgewogen wird neu allein aufgrund der schieren Masse an Einschränkungen! Nicht, dass das bislang schon mal passiert wäre, aber Fachleute halten das für angemessen!
Die Maßnahmen berücksichtigen nicht die gesellschaftlichen Nebenwirkungen des Lockdowns…
Ausgeblendet werden vor allem alle nichtvirologischen Wirkungen des Shutdowns *²⁷ : die Bildungsverluste bei Schülern und Studenten, die immensen ökonomischen Schäden, die Gefährdung der Existenzgrundlagen Hunderttausender Kleinunternehmer, die gesundheitlichen Folgen des Bewegungs- und Lichtmangels infolge von Homeoffice und Ausgangsbeschränkungen, die Verluste an Sozialkontakten, die Dramen, die sich aus dem permanenten Zusammenleben auf engstem Raum in den Haushalten entwickeln werden. Ausgeblendet sind auch die Auswirkungen auf politische Teilhaberechte, auf demokratische Öffentlichkeit, auf all das, was das Bundesverfassungsgericht als notwendige Bedingung der Demokratie hervorgehoben hat.” *²⁸ [S.29]
… und auch nicht die demokratischen!
“ „Natürlich wird mittelfristig viel dafür sprechen, nach Risikogruppen zu differenzieren und denjenigen Personengruppen, die durch das Corona-Virus besonders gefährdet sind, mehr an eigener Freiheitsbeschränkung abzuverlangen als den anderen. […] Unabhängig von der Dauer der Maßnahmen ist fraglich, ob die Summe der Ge- und Verbote den Bürgern nicht das „soziokulturelle Existenzminimum“ nimmt und insoweit gegen die Menschenwürde verstößt.” *²⁹ [S. 38]
*²⁷ Die wissenschaftliche Beratung der Politik weiß Anfang April bereits was die Politik falsch macht — und vor allem noch falsch machen wird…
*²⁸ … und wie sehr dies grundsätzlich schädlich für das Gemeinwesen ist!
Verheerenderweise gibt es auch keine Folgenabwägung seitens der Politik.
*²⁹ Da ist sie wieder, die Menschenwürde. Wenn man es mit den Maßnahmen übertreibt, ist am Ende auch sie betroffen!
“Einige der Kontaktbeschränkungen dürften hiernach erheblich problematisch oder wohl verfassungswidrig sein.” *³⁰ [S.42]
*³⁰ Das braucht man, glaube ich, nicht mehr zu übersetzen.
Fazit: Die Maßnahmen verstoßen in Summe gegen die Menschenwürde und sind verfassungswidrig
[UPDATE 25.10.20]:
Auch in einer aktuellen, anscheinend von Wolgang Schäuble veranlassten, formlosen Ausarbeitung [PDF] vom 19.10.20 hat der Wissenschaftliche Dienst erhebliche Bauchschmerzen
- dass die “äußerst intensiven und breit wirkenden Grundrechtseingriffe im
[…] auf eine bloße Generalklausel wie § 28 IfSG gestützt werden” und rät - “Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen […] Befristungen [etwa für die Dauer von zwei Wochen] einzuführen.” Sowie dass
- “In § 5 Abs. 2 IfSG der Bundestag den Verordnungsgeber (BMG) in weitem Umfang ermächtigt [hat], durch Rechtsverordnungen Ausnahmen von Gesetzesvorschriften zuzulassen. Dies ist sehr problematisch: Es dürfte wohl nicht mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Rechtsverordnungen vereinbar sein. Das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip sind berührt.”
Der letzte Satz bedarf aufgrund seiner juristischen Zurückhaltung einer Übersetzung ins Deutsche:
Die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit sind in Gefahr!
[ENDE UPDATE]
2. Verfassungsrechtliche Probleme
In Teil 1 — Formale Anforderungen (dort bei *³), schrieb ich, die Verfassungsmäßigkeit des IfSG gerichtlich überprüfen zu lassen, wäre ein grandioser Weg, sei aber eher Aufgabe für einen Verfassungsrichter a.D., als für mich.
Nun tauchen bei der Beschäftigung mit dem Thema in der Fachliteratur und der fachöffentlichen Diskussion mit solcher Regelmäßigkeit und so dermaßen viele grundlegende und ernsthafte verfassungsrechtliche Probleme mit dem Infektionsschutzgesetz auf, daß ich diese gar nicht auslassen kann.
Denn wenn das Infektionsschutzgesetz rechtswidrig ist, gilt dies auch für die nachfolgenden Verordnungen, (Allgemein-)Verfügungen und Maßnahmen!
Also, hier und in den folgenden Kapiteln:
Allgemeine und konkrete verfassungsrechtliche Bedenken zum IfSG, zur gegenwärtigen Lage und zu den Maßnahmen [alles Quelle ³, soweit beim Zitat nicht anders angegeben]:
2.1 Grundrechte und Eingriffe
“Die Grundrechte sind nach ihrer klassischen Funktion und weiterhin vornehmlich Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.*³¹ […] Die jüngere Grundrechtsfunktion der Schutzpflichten ist nicht völlig unproblematisch, weil sie schon bei leichter Ausdehnung unmittelbar in Konflikt zu anderen Grundsätzen der Verfassung insbesondere zur freiheitlichen Grundrechtsordnung selbst treten kann. Der Anerkennung von Schutzpflichten ist die Gefahr immanent, dass „die Grundrechte unter der Hand […] zur Grundlage einer Fülle von freiheitsbeschränkenden Reglementierungen werden“ könnten.” *³² [S.77]
Für Grundrechtseingriffe gilt zudem der […] Parlamentsvorbehalt: Der Gesetzgeber [muss] ‘in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, […] alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen’, d.h. er darf sie nicht an die Verwaltung delegieren. Der Parlamentsvorbehalt „stellt sicher, dass die Grenzen […] zwischen zulässiger und unzulässiger Grundrechtseinschränkung nicht fallweise nach beliebiger Einschätzung von beliebigen Behörden […] gezogen werden.“ *³³ [Prof. Kingreen in Quelle ², S.3–4]
*³¹ In 2020 ist die Situation jedoch auf den Kopf gestellt. Mit Art. 2 GG wird mit einem Grundrecht (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) eine Schutzpflicht des Staates begründet, die alle anderen 18 Grundrechte aussticht.
*³² Da haben wir den Salat: ‘schon bei leichter Ausdehnung’ tritt die Schutzpflicht in Konflikt zu den Freiheits-Grundrechten und läuft Gefahr ‘zur Grundlage von freiheitsbeschränkenden Reglementierungen werden’. Der Preis für das Understatement des Jahrhunderts geht an… — diese beiden Sätze!
*³³ Was ein Glück, daß wir den Parlamentsvorbehalt haben! Sonst könnten die Behörden ja ‘fallweise nach beliebiger Einschätzung’ mit uns umspringen! Moment — Parlamentsvorbehalt? Ja, wo ist eigentlich das Parlament im letzten halben Jahr?
Das Thema Grundrechte hilft hier erstmal nicht weiter, als zu einer deprimierenden Bestandsaufnahme.
2.2 Verfassungswidrigkeit des Infektionsschutzgesetzes
“Damit sind dem BMG [=Bundesminister für Gesundheit] Vollzugskompetenzen für das IfSG übertragen worden, was im Widerspruch zur verfassungsrechtlichen Zuständigkeitsordnung stehen dürfte.” *³⁴ [S.301]
“Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich seit dem 28.03.2020 in einem Ausnahmezustand. […drei Tage zuvor wurde eine] epidemische Lage von nationaler Tragweite [festgestellt]. Eine verfassungsrechtliche Grundlage für diesen Beschluss sucht man vergeblich.” *³⁵ [Prof. Ipsen, Deutsches Verwaltungsblatt 16/20 vom 11.08.2020, S.1037]
“§ 5 IfSG sieht entgegen der Lastenverteilungsregel [Art. 104 GG] vor, dass der Bund Finanzhilfen […für] die IT-Ausstattung der Gesundheitsämter gewähren kann. Die Regelung ist verfassungswidrig.” *³⁶ [S.76]
*³⁴ Es geht also auch deutlicher:
Die Kompetenzübertragung an den Bundesminister für Gesundheit ist verfassungswidrig
*³⁵ Was auch immer das heißt, klingt aber nicht gut für die Politik.
*³⁶ Deutliche Ansage bei einem ziemlich belanglosen Detail.
Ich suche mehr!
“Zwar treten nach § 5 IfSG die meisten Rechtsverordnungen, die auf dieser verfassungswidrigen Rechtsgrundlage beruhen, mit Ablauf des 31.03.2021 außer Kraft. Aber das soll jetzt erstens nicht mehr für alle Rechtsverordnungen gelten und zweitens bleibt davon ja die gesetzliche Ermächtigung als solche unberührt.” *³⁷ [Prof. Kingreen in Quelle ², S.5]
*³⁷ Langer Satz, der auch noch langweilig klingt. Hat aber Rumms: wenn die ‘Rechtsgrundlage verfassungswidrig’ ist, heißt das nichts weniger als: das IfSG ist als Grundlage für Verordnungen verfassungswidrig! — So einfach? Das ging jetzt fast ein bischen schnell.
Prof. Kingreen nimmt wahrlich (s.u.) kein Blatt vor dem Mund — auch nicht vor dem Bundestag — und er scheint damit leben zu können, daß die problematischen Verordnungen noch bis März 2021 bestehen. Wohl aus Erfahrung, weil er weiß, dass das Verfassungsgericht hier urteilen würde, der Gesetzgeber habe bis Ende 2022 Zeit nachzubessern, was in solchen Fällen oft das Urteil ist…
“Bezogen auf die gesetzlichen Normen, die durch die Verordnung modifiziert werden können, handelt es sich also um eine Blankovollmacht, die weitaus mehr als 1.000 Vorschriften umfasst. […] Diese Verlagerung auf [die] Exekutive wird nicht nur von den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages, sondern fast einhellig im rechtswissenschaftlichen Schrifttum für verfassungswidrig gehalten.“ *³⁸ [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.7]
*³⁸ Immerhin scheint die Mehrheit der Verfassungsrechtler das sehr kritisch zu sehen.
Schon verrückt, woran man in 2020 seine Hoffnungen so festmacht, oder festmachen muss…
“Ferner müssten die in § 5 IfSG verankerten Verordnungsermächtigungen ‘den Anforderungen des Art. 80 GG in vollem Umfang entsprechen’ […] ‘Sinn der Regelung des Art. 80 GG ist es, das Parlament darin zu hindern, sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft zu entäußern.’ *³⁹ In dieser Aussage des BVerfG wird deutlich, dass Art. 80 GG nicht nur Bestimmtheitsanforderungen aufstellt, sondern auch die Gewaltenteilung schützt. […] der Gesetzgeber [hat] mit § 5 IfSG Vorschriften von solcher Bedeutung und in solchem Umfang für subsidiär erklärt, dass innerhalb des Staatsgefüges eine den Kernbereich der Legislative verletzende Gewichtsverschiebung zwischen gesetzgebender Gewalt und Exekutive eingetreten ist. *⁴⁰ [S.101]
*³⁹ Das Parlament darf sich nach Art. 80 Grundgesetz gar nicht so weit — wie seit März und derzeit — aus der Epidemie-Bekämpfung zurückziehen…
*⁴⁰ …und tut es trotzdem! Wissentlich.
“Die hier in Rede stehenden Rechtsverordnungen sollen die Gesetze aber nicht konkretisieren, sondern konterkarieren. Eine solches Notverordnungsrecht tangiert mit Art. 20 Abs. 2 und 3 GG die Staatsfundamentalprinzipien unseres Grundgesetzes, […] Nach dem in Art. 20 Abs. 3 GG verorteten Rechtsstaatsprinzip ist die vollziehende Gewalt ‘an Recht und Gesetz gebunden’. *⁴¹ § 5 IfSG versetzt [den Bundesminister für Gesundheit] aber nunmehr in die Lage, das Recht und das Gesetz, an das er gebunden ist, zu suspendieren und durch eigenes Recht zu ersetzen. Damit wird […] die Gewaltenteilung […] durchbrochen, […].” *⁴² [Prof. Kingreen in Quelle ², S.3–4]
*⁴¹ ‘Die Staatsfundamentalprinzipien unseres Grundgesetzes werden tangiert’ — was für ein Statement! Ich bin begeistert! Gut, er hätte noch sagen können: ‘gerammt’, aber der Mann ist Jurist.
*⁴² Ich nehme alles zurück: ‘durchbrochen’! Echt jetzt? Sensationell!
STRG+C und STRG+V in die Verfassungsbeschwerde!
Ich ziehe ab sofort in Erwägung, nicht ‘nur’ gegen die Maskenpflicht, sondern auch gegen das IfSG selber Verfassungsbeschwerde zu erheben.
2.2.1 Kollision des IfSG mit Artikel 80 Grundgesetz
“In § 5 IfSG eröffnet der Gesetzgeber den Zugriff auf das gesamte Öffentlich-rechtliche Recht der Gesundheit. Ein solcher Zugriff ist grundsätzlich mit Art. 80 Abs. GG nicht zu vereinbaren.” *⁴³ [S.101]
*⁴² Da kommt anscheinend noch mehr :-) §5 IfSG ist verfassungswidrig.
“Die durch den Feststellungsbeschluss ausgelöste Ermächtigung des Bundesministers für Gesundheit, nach näherer Maßgabe von § 5 Abs. 2 IfSG in Rechtsverordnungen „Ausnahmen“ und „Abweichungen“ von nicht näher eingegrenzten Parlamentsgesetzen vorzusehen, ist nämlich verfassungswidrig. *⁴⁴
*⁴³ Nochmal:
§5 Abs. 2 IfSG ist verfassungswidrig
Gemäß Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG können Gesetze zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigen, wenn sie gemäß Art. 80 GG Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen. Art. 80 Abs. 1 GG steht im historischen Kontext der „leidvollen Erfahrungen deutscher Verfassungsentwicklung“ und fungiert als „bereichsspezifische Konkretisierung des Rechtsstaats-, Gewaltenteilungs-[…] und Demokratieprinzips“. Er sollte ‘der ‚Ermächtigungsgesetzgebung‘ einen Riegel vorschieben und eine geräuschlose Verlagerung der Rechtsetzungsmacht auf die Exekutive sowie die damit verbundene Veränderung des Verfassungssystems verhindern.’ *⁴⁵ Das Parlament darf sich aus diesem Grunde, so das Bundesverfassungsgericht, nicht „durch eine Blankoermächtigung an die Exekutive seiner Verantwortung für die Gesetzgebung entledigen und damit selbst entmachten.“ *⁴⁶ [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.4–5]
*⁴⁵ Aufgrund von schlechten früheren Erfahrungen will uns das Grundgesetz ausdrücklich vor ‘Verlagerung der Rechtsetzungsmacht auf die Exekutive sowie der damit verbundenen Veränderung des Verfassungssystems’ schützen…
*⁴⁶ … und das Parlament darf genau das, was es getan hat, — nennen wir es mal ‘häusliche Quarantäne’ — nicht tun!
Und was macht die ‘Vierte Gewalt’ im Lande? Propagiert AHA-Regeln und zählt Reichs(kriegs)flaggen auf Demos! Was für ein Totalausfall!
“Die generalklauselartigen Ermächtigungstatbestände des §5 IfSG begegnen einzeln und erst recht in ihrer Gesamtheit mit Blick auf Art. 80 GG (Inhalt, Zweck und Ausmaß) allerhöchsten verfassungsrechtlichen Bedenken.” *⁴⁷ [S.221]
*⁴⁷ ‘Allerhöchste verfassungsrechtliche Bedenken’. Keine weiteren Fragen.
Nur noch mehr copy & paste.
2.2.2 Verstöße gegen das Bestimmtheitsgebot
“Das Bestimmtheitsgebot mit seinem Ziel, staatliches Handeln […] zu begrenzen, gebietet jedoch eine einschränkende Auslegung der Generalklausel des § 28 IfSG. […] Eine weitergehende Befugnis zur Regelung aller Problemlagen, […] ist jedenfalls mit § 28 , § 32 IfSG nicht verbunden. Andernfalls wären Inhalt und Ausmaß der Befugnis (§ 28 IfSG) bzw. Verordnungsermächtigung (§ 32 IfSG) gar nicht mehr einzugrenzen.” *⁴⁸ [S.90]
*⁴⁸ Die Politik ist verfassungsrechtlich verpflichtet, die Generalklauseln, (zu diesen unten in 2.2.4 mehr) welche die Grundlage für nahezu alle Corona-Maßnahmen sind, zurückhaltend ‘auszulegen’, und nicht zu versuchen, alle Probleme damit zu lösen. Sonst ufert die ohnehin schon heikle Situation aus.
“Angesichts dieser Weite der Ermächtigungsnorm drängt sich natürlich die Frage auf, ob § 5 IfSG (noch) den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes aus Art. 80 GG im Hinblick auf Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage genügt.” *⁴⁹ [S.298]
*⁴⁹ Aussagen werden auf Juristendeutsch gerne als Frage verkleidet. Also:
§5 IfSG genügt den Anforderungen aus Art. 80 GG nicht
“[…] vor dem Hintergrund […] des Bestimmtheitsgebotes nach Art.80 GG sog. [sind] Globalermächtigungen [nicht zulässig]. [Damit ergeben sich] erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Zulässigkeit dieser Ermächtigungsnorm, denn sie sind […] fast nicht einzugrenzen. Und dies bei massiven Eingriffen in die Grundrechte der Betroffenen, […]” *⁵⁰ [S.214]
*⁵⁰ Nicht nur, daß die Verordnungen mit dem Grundgesetz kollidieren, und zwar aus sich heraus — und nicht wegen dem Virus! — , weil §5 IfSG verfassungswidrig ist — nein, die Situation wird durch die lausige Handhabung seitens der Politik auch noch unübersichtlich (‘fast nicht einzugrenzen’).
Und das bei massiven Eingriffen in die Grundrechte der Bevölkerung!
(Wenigstens kann man hieraus auch ein Argument ziehen — siehe Kapitel 2.5)
So langsam bekomme ich so was wie Respekt vor dem dicken Fell der Politiker. Sich bei so einer Rechtslage hinstellen und dann das erzählen, was die so erzählen! Wow.
Wie so oft in dieser Artikelreihe: geht noch weiter!
2.2.3 Verstöße gegen die Wesentlichkeitstheorie und die Gewaltenteilung
“Die Wesentlichkeitstheorie besagt […], dass der parlamentarische Gesetzgeber gehalten ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. *⁵¹ […] Sie verdichtet […] den Vorbehalt des Gesetzes, […] zu einem Delegationsverbot. [… Laut BVerfG muss] „die Entscheidung aller grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen, durch Gesetz erfolgen […]. Dieser Entscheidungspflicht kann sich der demokratische Gesetzgeber nicht beliebig entziehen.’ ” [S.90–91]
“Bestimmte Entscheidungen kann ein Parlament nicht lapidar mit §§ 28, 32 IfSG auf die Exekutive delegieren. […] Bei dem Ausmaß und Gewicht der [hier] ‘auf dem Spiel’ stehenden Interessen ist einzig und allein der […] parlamentarische Gesetzgeber zu einer Abwägung der gegenläufigen Interessen berufen.” *⁵² [S.92]
*⁵¹ Die ‘Zurückhaltung’ des Parlaments kollidiert auch noch mit der ‘Wesentlichkeitstheorie’ des Verfassungsgerichts.
*⁵² Es hat bei so schwerwiegenden Themen wie in 2020 eine Entscheidungspflicht, die es nicht der Regierung, der Ministerpräsidentenkonferenz (die es übrigens verfassungsrechtlich gar nicht gibt, aber wir wollen mal nicht kleinlich sein) oder anderen Organen überlassen darf.
“Gegen diese Selbstentmächtigung des Bundestages ist schon Ende März 2020 verbreitet verfassungsrechtliche Kritik geäußert worden […] Anknüpfungspunkt der Kritik ist meist Art. 80 GG, der Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen nur zulässt, wenn das ermächtigende Gesetz, Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmt.” *⁵³ [Prof. Kingreen in Quelle ², S.3]
*⁵³ Die Kollision mit Art. 80 GG etwas genauer: das ‘ermächtigende Gesetz’, also das IfSG, müsste ‘Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen’, was es aber nicht kann, weil die verwendete Ermächtigung die Generalklausel ist.
Diese soll eben unbestimmt sein, sonst wäre sie keine Generalklausel. Warum ist sie dann so wichtig? Weil sie so praktisch ist! (Siehe nächstes Kapitel)
So kann man Flughäfen bauen, Bußgeldkataloge schreiben, und versuchen Daten vorratzuspeichern, aber mit der Rettung der Welt wird das schwierig.
“Verfassungsrechtlich problematisch ist zunächst, dass es § 5 IfSG in vielfacher Hinsicht gestattet, durch Rechtsverordnung von Parlamentsgesetzen abzuweichen. Hierbei geht es im Kern um den Vorrang des (Parlaments-)Gesetzes und damit die Verantwortung des parlamentarischen Gesetzgebers für den Inhalt des Rechts. […Dieser] Vorrang […] darf nicht umgekehrt werden.” *⁵⁴ [S.138]
“Zur Sicherstellung der […] Gewaltenteilung und der verfassungsrechtlichen Stellung des Parlaments im Staatsgefüge, […] wären jedoch Sicherungselemente unabdingbar, die § 5 IfSG nicht aufweist.” *⁵⁵ [S.102]
*⁵⁴ Der §5 hat’s wirklich in sich! So als demokratischer Sprengsatz. Dazu noch mehr unten in 2.3 Rechtsverständnis der Regierung!
*⁵⁵ Feinstes Juristendeutsch: wenn man das schon so verfassungsrechtliche-grenzen-dehnend macht, muss man wenigstens ein paar Sicherungen einbauen. Ist aber nicht passiert.
So, genug auf §5 rumgehackt. Da gibt es doch bestimmt noch mehr §§:
2.2.4 Problem Generalklauseln §16 und §28 IfSG
“[Es] erschließt sich allerdings nicht, dass zB die Polizeigesetze verschiedenste Maßnahmen en detail regeln […] infektionsschutz-rechtliche Verbote, die bis zum vollständigen Gewerbe- oder Versammlungsverbot reichen, aber auf eine Generalklausel gestützt werden […] Allgemein sind Generalklauseln, die von einer Umschreibung der zu ergreifenden Mittel absehen, im Ordnungsrecht unverzichtbar, […] Andererseits verpflichtet die sog. Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts den parlamentarischen Gesetzgeber, wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen selbst zu treffen und nicht anderen Normgebern oder der Exekutive zu überlassen.” *⁵⁶ [S.325]
*⁵⁶ Juristisches Unverständnis darüber, z.B. Ausweiskontrollen detailliert zu regeln, aber landesweite, vollständige Arbeitsverbote ganzer Branchen und die Aussetzung der Versammlungsfreiheit im Land mit einer Generalklausel zu steuern. Besonders, weil die Verwendung der Generalklauseln fast immer die nicht zulässige Delegation auf die Exekutive nach sich zieht.
Und an irgendeinem Zeitmangel kann es nicht gelegen haben! Der erste Aufsatz von Prof. Kingreen erschien schon am 20.März, und die unsägliche Situation währt ja nun schon ein paar hundert Tage an.
Das IfSG sieht einige nach Tatbestand und Rechtsfolge ausdrücklich beschriebene Maßnahmen vor […]. Diese [sind…] Standardmaßnahmen […]. Daneben existieren zwei Generalklauseln, und zwar § 16 für die Verhütung […und] § 28 IfSG für die Bekämpfung [von] Krankheiten. *⁵⁷ […] In verfassungsrechtlicher Hinsicht sind Generalklauseln […] nicht unproblematisch […]. Zum einen treten Generalklauseln in Konflikt zum rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot. […] Das allgemeine Bestimmtheitsgebot zwingt den Normgeber, Vorschriften so klar zu fassen, dass ‘die Rechtslage für den Betroffenen erkennbar ist und er sein Verhalten daran ausrichten kann’. *⁵⁸
*⁵⁷ Die Unterscheidung von Regel- oder Standardmaßnahmen und Maßnahmen aufgrund der Generalklauseln scheint ein spannendes Thema, das ich aber noch nicht genug durchschaue. Im Wesentlichen geht es wohl darum, daß Maßnahmen, die Standardmaßnahmen sind, nicht mit der Generalklausel begründet werden dürfen. (Nochmal bei *⁶⁵ )
OFFENE FRAGE: ist das ein lohnenswerter Ansatz für die Verfassungsbeschwerde? Vermutlich nein. Eher, wenn man gegen eine schlampig begründete Quarantäne oder ein Bußgeld vorgeht, vermute ich.
*⁵⁸ Das ‘Bestimmtheitsgebot zwingt (!) den Normgeber, Vorschriften so klar zu fassen, dass die Rechtslage für den Betroffenen erkennbar ist und er sein Verhalten daran ausrichten kann’. Ich würde sagen, genau das ist derzeit nicht der Fall. Warum? Wegen der Generalklausel! Es ginge also besser!
‘Die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit der Norm dienen ferner dazu, die Verwaltung zu binden[, …] zu begrenzen […und] die Gerichte in die Lage versetzen, die Verwaltung […] zu kontrollieren.’ *⁵⁹ Zum anderen droht durch […] Generalklauseln […eine] Umgehung von grundrechtlichen Gesetzes- bzw. Parlamentsvorbehalten. Die Generalklausel birgt die Gefahr, dass der Gesetzgeber mit ihr wesentliche Entscheidungen, die er ggf. selbst zu treffen hätte, auf die Verwaltung delegiert.” *⁶⁰ [S-85–86]
*⁵⁹ Das Bestimmtheitsgebot hat weiter den guten Zweck, daß die Gerichte die Verwaltung besser kontrollieren können. So gesehen: noch ein Grund warum die Politik Generalklauseln so toll findet. Um die Kanzlerin (kreativ) zu zitieren:
Die Generalklausel ist eine Zumutung für die Demokratie
*⁶⁰ Und noch ein Schlupfloch für ein drückebergerisches Parlament bzw. die Möglichkeit zur Umgehung dessen!
2.3 Fragen zum Rechtsverständnis der Regierung
“Dass beide rechtsstaatlichen Sicherungselemente bei § 30 Abs. 1 IfSG im Gesetzestext fehlen, findet seinen Grund in einer abenteuerlichen Fehlvorstellung im Gesetzgebungsverfahren zum IfSG. *⁶¹ [Dort] findet sich in der Begründung die Aussage: „Die in Absatz 1 geregelte Absonderung setzt die Freiwilligkeit des Betroffenen und damit seine Einsicht in das Notwendige voraus.“ Offensichtlich soll es sich wegen der behaupteten „Freiwilligkeit“ noch nicht einmal um einen Grundrechtseingriff handeln. *⁶² Die offenbarte (Fehl-) Vorstellung dient wohl dazu, eine mit dem Grundrechtsverständnis der 1950er Jahre geschaffene Regelung unbeschadet in das neue Jahrtausend zu überführen.” [S.115]
*⁶¹ Ich frage mich ob die ‘abenteuerliche Fehlvorstellung’ (im Bundestag!) die Sache mit dem dicken Fell schlimmer oder besser macht…
*⁶² Offensichtlich schlimmer! Wer in eine Verordung schreiben will: die Quarantäne (die rechtlich eine Freiheitsentziehung ist!) soll freiwillig sein, und ist dadurch kein Eingriff in Grundrechte, hat zu viel dickes Fell.
Unglaublich, aber kaum zu verwenden für die Verfassungsbeschwerde…
“Ein Land [ist aufgrund der Kompetenzordnung des Grundgesetzes] hinsichtlich [der Corona-Maßnahmen] verfassungsrechtlich nicht an die Absprachen gebunden, die auf Ministerpräsidentenebene mehrheitlich getroffen wurden.” *⁶³ [S.75]
*⁶³ Eine Petitesse am Rande: die regelmäßigen Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Kanzlerin haben keine verfassungsmäßige Grundlage. Der Autor von dem hier zweimal zitierten Artikel im Dt. Verwaltungblatt nennt die Runde noch am wohlwollendsten: ‘Quasi-Organ’. Daher sind die Entscheidungen nicht bindend. Jeder dort weiß das, und was machen die da für eine Welle!
“Schon jetzt gibt es auf der Grundlage von § 5 Abs. 2 S. 1 IfSG eine ausschweifende ‘Nebengesetzgebung’ , die dazu führt, dass man nicht mehr sicher sein kann, ob das im „Hauptgesetz“ Geregelte tatsächlich gilt. […] Die Ermächtigungsgrundlagen in § 5 Abs. 2 S. 1 IfSG erlauben ohne jede Differenzierung Ausnahmen und Abweichungen von allen Normen der dort bezeichneten Gesundheitsgesetze.“ *⁶⁴ [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.6]
*⁶⁴ ‘Ausschweifende Nebengesetzgebung’ trifft die Lage ganz gut. Ermöglicht durch den notorischen §5 IfSG. Zusammen mit dem ‘nicht mehr sicher sein können’ (mehr dazu unten in Kapitel 2.6) für die Verfassungsbeschwerde verwendbar!
“Die Unterscheidung zwischen Anordnungen und Rechtsverordnungen in § 5 Abs. 2 IfSG sollte aufgegeben werden. Zulässig ist allein die Ermächtigung des Bundesministers der Gesundheit zum Erlass von Rechtsverordnungen, die durch Anordnungen der zuständigen Behörden vor Ort konkretisiert werden können. *⁶⁵ Alle Bestimmungen, die den Bundesminister für Gesundheit ermächtigen, durch Rechtsverordnungen von Parlamentsgesetzen abzuweichen, sind wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 2 und 3 GG) aufzuheben. *⁶⁶ […] Das infektionsschutzrechtliche Gefahrenabwehrrecht muss grundlegend überarbeitet werden.” *⁶⁶ [Prof. Kingreen in Quelle ², S.7]
*⁶⁵ Finde ich auch! Verwirrt mich genau so wie die Regelmaßnahmen im Verhältnis zur Generalklausel. (siehe *⁵⁷ )
OFFENE FRAGE: Ist diese Unklarheit problematisch genug (‘zulässig ist allein’) um dagegen vorzugehen?
*⁶⁶ Bedürfen keiner Übersetzungen, eine Zusammenfassung reicht:
Die Bestimmungen sind wegen ihrer Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz aufzuheben
Teile des IfSG müssen grundlegend überarbeitet werden
“Man scheint sich allmählich an die Gesetzgebung durch ministerielle Notverordnungen zu gewöhnen. Während man bislang noch sagen konnte, es gehe doch nur um Detailfragen des Infektionsschutzrechts (und auch das stimmt nicht, es geht auch um sensible Fragen wie eine Deregulierung des Arzneimittelzulassungsrechts), geht es beim Wahlrecht dann um das demokratische Eingemachte.“ *⁶⁸ [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.8]
*⁶⁷ Schon wieder so ein Klopper: ‘Man scheint sich allmählich zu gewöhnen’ — nicht nur dickfellig, nein auch noch faul, oder wenigstens bequem! Und das zu Lasten unserer Grundrechte!
*⁶⁸ Zusammenfassende Übersetzung:
Es geht hier nicht nur um Teile des IfSG, sondern um die Grundfesten der Demokratie
“Alle Ermächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen [sind] höchst restriktiv auszulegen, um das Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu vermeiden.*⁶⁹ Das gilt erst recht, wenn mit diesen Normen in Grundrechte eingegriffen wird. [Sie sind] auf das unerlässliche Maß zu beschränken und inhaltlich so auszugestalten sind, dass insbes. in Grundrechte so wenig wie möglich eingegriffen wird.” *⁷⁰ [S.139]
*⁶⁹ Hatten wir schon, (*³² und *⁵⁵) aber nun (‘Verdikt der Verfassungswidrigkeit’) wird ein Argument für die Verfassungsbeschwerde daraus.
*⁷⁰ Das hier schon länger nichts mehr ‘auf das unerlässliche Maß beschränkt’ merken mittlerweile sogar die Leitmedien. Kommt in in das obige Argument.
“Der Feststellungsbeschluss nach § 5 IfSG gilt hingegen grundsätzlich so lange wie seine gesetzlichen Grundlagen. Das führt dazu, dass nicht mehr zeitlich engmaschig geprüft wird, ob sich die tatsächlichen Voraussetzungen geändert haben.” *⁷¹ [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.3]
*⁷¹ Dickfellig und faul. Streiche ‘bequem’. Das ist eine gottverdammte verfassungsrechtliche Pflicht! — Oh, ich habe ein neues Lieblingswort: ‘tatsächliche’! Der halbe Artikel ‘Teil 6 - Die Epidemiologische Lage’ basiert auf diesem Wort!
“Man muss daher auch davon ausgehen, dass der Termin 31.03.2021, an dem alle Not-Rechtsverordnungen außer Kraft treten sollen, weiter hinausgeschoben wird. Damit droht die Gefahr einer dauerhaften Verstetigung eines verfassungsrechtlich nicht zulässigen Ausnahmezustands über die bisherige Legislaturperiode hinaus.” *⁷² [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.8]
*⁷² Oh, oben in *³⁷ schrieb ich, daß Prof. Kingreen entspannt sei, was den Zeithorizont betrifft. War ein Irrtum. Problem: nützt vor dem Verfassungsgericht leider gar nichts! (s. Teil 1, Kapitel 1, *⁴: ‘der Beschwerdeführer muss gegenwärtig betroffen sein’. “Kommen Sie am 01.04.2021 wieder…” )
“So lange diese Normen nicht verändert werden, bleibt es bei dem verfassungsrechtlich fatalen Eindruck eines sich verstetigenden Ausnahmezustands auch über diese Legislaturperiode hinaus. Der Deutsche Bundestag sollte diese Normen daher schon um seiner demokratischen Selbstachtung willen aufheben oder sie wenigstens so verändern, dass er den Feststellungsbeschluss in regelmäßigen Abständen aktiv erneuern muss.” *⁷³ [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.11]
*⁷³ ‘um seiner demokratischen Selbstachtung willen’ — ein Tritt in den Allerwertesten, mit Anlauf! Was ist denn noch nötig?
Angesichts der dickfelligen Faulheit:
offensichtlich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
2.4 Problem Wissenschaft als Berater der Politik
“[Die] Handlungsoptionen werden weitgehend vom medizinischen und epidemiologischen Wissen präjudiziert. Demgemäß macht § 1 IfSG den ‘jeweiligen Stand der medizinischen und epidemiologischen Wissenschaft’ zur Grundlage einer Zusammenarbeit, die auch Ärzte, Tierärzte, Krankenhäuser und wissenschaftliche Einrichtungen umfasst. *⁷⁴ […] Essentiell […] ist (möglichst schnell generiertes) Faktenwissen, *⁷⁵ […]. Auf solchen Fakten basieren Risikobewertungen und Handlungsempfehlungen, insbesondere des RKI. *⁷⁶
*⁷⁴ Das wär doch mal was. Schon mal besser als ein Virologe und ein Tierarzt. Und wenn man dann noch ‘wissenschaftliche Einrichtungen’ hinzuziehen würde, wie EBM, IMVR, BIH, div. Unis, UKE u.v.a.m. — ein Traum!
Die Pandemie wäre jetzt schon weg.
*⁷⁵ Faktenwissen wäre echt mal gut:
- z.B. zur Sterblichkeit:
Mortalität lt. RKI¹ x Kleingedrucktes zum Virus lt. RKI²
= 2,9% x [1/2]1/10[1/34] = von 0,08% über 0,29% bis 1,45% - z.B. zu erwartende PCR Falsch-Positiv-Ergebnisse > ‘Neuinfektionen’ ³
¹ Stand 13.10.20 — war lange bei ca. 4% (3,8% bis 4,3%) _ ² Stand 13.10.20 — ‘Steckbrief’, Pkt. 19, dort ‘ Untererfassung’, war lange mit “Faktor 11 bzw. 20” angegeben _ ³ Stand Okt. 2020 — Erläuterung seit Monaten gleich, z.B. Thesenpapier 2.0 des IMVR, zu Stand ‘Neuinfektionen’ Mitte Oktober 2020
*⁷⁶ Tja, und das ist jetzt der ganz spannende Punkt! Auf diese Bewertungen des RKI bezogen sich schon viele Argumente und viele Gerichtsurteile.
Aber was ist, wenn die Fakten interpretiert werden? Wenn Sie immer vom schlimmen Ende her betrachtet werden? Wenn sie nur teilweise berücksichtigt werden? Wenn das RKI rechtswidrig, — d.h. anders als vom IfSG gefordert — zählt? Was, wenn dies den Rahmen für den Ermessens- und Prognose-Spielraum verschiebt? Den Rahmen, an dem das Gericht die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen überprüft?
Könnte die entscheidende Frage der Verfassungsbeschwerde werden.
Siehe hierzu demnächst Teil 6 - Die Epidemische Lage [Link folgt].
Das IfSG wird als ein ‘„’Fachgesetz angewandter Epidemiologie’ charakterisiert, […]. Daraus könnte man folgern, dass die von den zuständigen Behörden zwingend zu ergreifenden ‘notwendigen Schutzmaßnahmen’ iSv § 28 IfSG genau diejenigen Maßnahmen sind, die Epidemiologen für fachlich geboten halten. *⁷⁷ Eine solche Betrachtungsweise stößt bereits an innere Grenzen. Denn es gibt oftmals nicht die epidemiologisch richtige Maßnahme. Es wäre geradezu unwissenschaftlich zu glauben, dass ausgerechnet die Wissenschaft der Epidemiologie die eine richtige Wahrheit kennt. *⁷⁸ Der Wissenschaft ist es bereits immanent, dass dieselben Fakten unterschiedlich gedeutet und bewertet werden können. Hinzu kommt, dass die Daten […] qualitativ schlecht sein können, womit das Risiko einer Fehlprognose und falschen Handlungsempfehlung steigt. […] Daher wäre es ein Trugschluss zu glauben, die Epidemiologie würde nur eine einzige vertretbare Antwort auf die Frage liefern, was notwendige Schutzmaßnahmen sind.” *⁷⁹ [S.109]
*⁷⁷ Sieht die Politik auch so: ‘genau diejenigen Maßnahmen’. Das Gegenargument folgt zum Glück sofort: ‘es wäre unwissenschaftlich dies zu glauben’.
*⁷⁸ Es ist aber noch schlimmer, die Politik glaubt nicht der einen Wissenschaft, sondern dem einen Wissenschaftler!
*⁷⁹ Zwar gibt von seiten der Fachleute den dringenden Rat, die Fachdisziplinen Virologie, Epidemiologie, Infektiologie und Intensivmedizin, Hygiene und Pflege um die bei einer Epidemie unverzichtbaren Disziplinen Public Health, Ethik, Ökonomie, Rechts-, Sozial-, und Politikwissenschaft zu ergänzen, aber geschehen ist hier so gut wie nichts. Überall nur monodisziplinäre ‘Trugschlüsse’!
[Die] Wirksamkeit [von Masken] zur Verringerung der Infektionszahlen [ist] wissenschaftlich bislang nicht nachgewiesen […]. *⁸⁰ [S.296]
*⁸⁰ Gilt immer noch! Wie gesagt, Teil 6…
“Dabei entspricht es der Natur der Sache, dass kaum ein Stand der Wissenschaft jemals unumstritten sein wird. Maßgebend kann deshalb nur die überwiegende Auffassung der Fachwelt sein.” *⁸¹ [S.317]
*⁸¹ Tja, und das ist jetzt noch ein spannender Punkt! Definiere ich ‘überwiegende Auffassung’ in der Breite (Anzahl hörbare Stimmen) oder in der Tiefe (Anzahl der Fachdisziplinen)? Auch ein Punkt für den nächsten Artikel.
“Wir wissen nach wie vor zu wenig über das Virus, sind unsicher, welche Gegenmaßnahmen helfen und welche bloße Symbolpolitik sind *⁸² und können bislang auch nur erahnen, wie tiefgreifend die Veränderungen sein werden, die sich aus sozialer Distanzierung ergeben, aber eben auch, welche Chancen ein solcher Umbruch bietet. In einer solchen Situation bedarf es eines ergebnisoffenen, nicht politisch determinierten Diskurses, *⁸³ […].” [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.10]
*⁸² Wie schön, zu lesen, daß das verfassungsrechtliche Schrifttum sich vorstellen kann, daß Maßnahmen auch ‘bloße Symbolpolitik’ sein könnten. Macht Hoffnung.
*⁸³ Hallo, Politik? Hallo, Leitmedien? ‘Es bedarf eines ergebnisoffenen, nicht politisch determinierten Diskurses’! Wär Euch gar nicht in den Sinn gekommen?
“Gute Wissenschaft *⁸⁴ hat hier gegenüber Politik den Vorteil, dass sie es gewohnt ist, mit Unsicherheit umzugehen, dass sie dies auch artikuliert und vor allem die immanente Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis eingesteht. *⁸⁵ Die Pandemie ist unbestrittenermaßen eine interdisziplinäre Herausforderung. Gefordert ist nach wie vor und zu Recht in erster Linie die Medizin, insbesondere Virologie, Epidemiologie und Hygiene.” *⁸⁶ [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.10]
*⁸⁴ Interessant. Heißt, 1. es gibt auch Wissenschaft die nicht gut ist, nämlich die, die alles weiß (aber das nur am Rande) und …
*⁸⁵ … viel wichtiger, 2. dass Politik nicht
- ‘gewohnt ist, mit Unsicherheit umzugehen’
- dass sie dies auch nicht kann
- dass sie dies ‘auch nicht artikuliert’ und vor allem
- dass sie die ‘Vorläufigkeit von Erkenntnissen’ niemals eingestehen würde.
- Und die ‘Interdisziplinarität’ der Herausforderung wird selbstverständlich bestritten. Am besten mit ‘Nichtwissen’.
Wer weiß, vielleicht bekomme ich hier auch noch ein Argument extrahiert.
*⁸⁶ Und nicht contradisziplinär wie Drosten auf Twitter gegen das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Die wissen sich aber wenigstens zu wehren.
2.4.1 Die Epidemiologische Lage
“Die Datensammlung [des RKI] dient insbesondere dazu, die vorstehend bezeichneten Aufgaben (Analyse, Forschung, Empfehlungen usw) erfüllen zu können. […] Die Handlungsoptionen in einer epidemischen Lage werden weitgehend vom medizinischen und epidemiologischen Wissen präjudiziert. Um das erforderliche Wissen aufzubauen und fortzuentwickeln ist eine fortlaufende und systematische Sammlung, Analyse und Bewertung von Daten über [den] Infektionsausbruch erforderlich.” *⁸⁷ [S.71–72]
*⁸⁷ Eigentlich ein eher öder Satz. Ich werde mich in Teil 7 daran abarbeiten, mit dem Ziel, dem RKI vorsätzliche Untätigkeit bzw. fahrlässig ungeeignete Tätigkeit nachzuweisen.
“Als oberster Bundesbehörde obliegt dem BMG auch die Aufgabe […der] Planung für den Fall einer Pandemie. […] So erarbeitete das RKI […] einen Nationalen Pandemieplan. Dieser Plan bezieht sich vornehmlich auf eine Influenzapandemie, entfaltet aber ‘Auffangwirkung für durch andere Erregergruppen ausgelöste Pandemien’.” *⁸⁸ [S.74]
*⁸⁸ D.h. der Nationale Pandemieplan ist das maßgebliche Dokument. Den Job hat das RKI nämlich ganz gut gemacht (siehe Artikel ‘Was wäre die Lösung?’). Ich werde mich in Teil 7 daran abarbeiten, mit dem Ziel, der Politik vorsätzlich fahrlässig¹ ungeeignete Tätigkeit nachzuweisen!
¹ gibt’s nicht, ich weiß. Dann gibts das eben jetzt, wir haben 2020!
“Sind in einer fortgeschrittenen Bekämpfungsphase endlich Informationen über ein neues Virus — insbes. über seine Gefährlichkeit, Übertragungswege (resp. Schutzmöglichkeiten), Verbreitung und Ausbreitungsgeschwindigkeit (zB Zahl der Neuinfektionen pro Tag), örtliche Unterschiede — verfügbar *⁸⁹, können die für die Ermittlung der fallbezogenen Bedeutung eines Gemeinwohlbelangs relevanten Faktoren Gefahrenlage und Nutzeffekt auch wieder besser fruchtbar gemacht werden, welche das abstrakte Gewicht der verfolgten Gemeinwohlbelange (Leben und körperliche Unversehrtheit) relativieren können.” *⁹⁰ [S.96–97]
*⁸⁹ Gehört zu dem vorigen Themenkomplex. Auch hier sehe ich eine Diskrepanz zwischen Anspruch und RKI. Mal sehen was sich damit anfangen lässt.
*⁹⁰ Ich habe das Gefühl der Satz ist wichtig! Aber er gehört zu denen, die ich zehnmal lese und immer noch nicht verstehe! ‘fallbezogene Bedeutung eines Gemeinwohlbelangs’? Bitte was?
OFFENE FRAGE: Was bedeutet oder meint die ‘besser-fruchtbar-machung der relevanten Faktoren Gefahrenlage und Nutzeffekt für die Ermittlung der fallbezogenen Bedeutung eines Gemeinwohlbelangs’?
“ ‘Die Testung von symptomfreien Personen entspricht der verbreiteten Forderung der Wissenschaft nach repräsentativen bevölkerungsmedizinischen Tests.’ ” *⁹¹ [S.277]
*⁹¹ Und nur ein halbes Jahr nachdem Prof. Ionannides (Standford), Prof. Schrappe (IMVR der Uni Köln), Prof. Püschel (UKE, Hamburg), Prof. Streeck (Uni Bonn), das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin und sogar das Berlin Institute of Health bei der Charité das gefordert haben, startet das RKI eine große deutschlandweite Studie.
Untersucht wird auf Antikörper, wow! — nicht auf zelluläre Immunität. Erstere sind ein paar Wochen lang im Körper, zweitere jahrzehntelang! Da weiß ja sogar Drosten¹, dass das maximal ein halberfreuliches Ergebnis haben wird. [¹ Übersetzung und Erläuterung der Studie in ‘Was wäre die Lösung?’]
“Möglicherweise ist aber auch ein Teil der Bevölkerung bereits immun *⁹² da COVID-19 auch symptomlos verlaufen kann. Diese Fragen sind indes mit großer Unsicherheit behaftet, da auch noch nicht bekannt ist, ob und wie lange ein Mensch nach durchlaufender COVID-19-Erkrankung immun ist. *⁹³ […] Gegen einen klinisch schweren Verlauf scheint bei COVID-19 zu sprechen, dass die Krankheit gänzlich unbemerkt und symptomlos verlaufen kann. *⁹⁴ […] Wegen der teilweise unbemerkt bleibenden Infektionen ist die Mortalität noch nicht abschließend abschätzbar.” *⁹⁵ [S.339–341]
*⁹² Möglicherweise? Laut der Studie ‘von Drosten’ 35% der Bevölkerung. Laut einer Studie der TU Tübingen 81%. Anhänge für die Verfassungsbeschwerde hab ich also.
*⁹³ Interessant ist m.E. hier der Kenntnisstand den ein Voll-Jurist im Sommer 2020 hat. Die Sachlage ist aus meiner Sicht schon deutlicher: Siehe oben bei *⁹¹. Und die Leitmedien stürzen sich auf die Antikörper, die verschwinden schön schnell, bevor die Panik nachlässt. Die zelluläre Immunität von SARS-Patienten ist nach 17 Jahren noch nachweisbar intakt. Ich werde den Sachstand also vortragen.
*⁹⁴ Wichtiger Punkt für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Ich hoffe das Gericht hiervon zu überzeugen.
*⁹⁵ Und doch legte sich Prof. Ioannidis schon am 17. März auf 0,125% (bei einer statistischen Bandbreite von 0,05% bis 0,625%) fest. Der Rest der Fachwelt (WHO, RKI, CDC, ETC.) arbeitet sich von 3,4% (und mehr) kommend langsam in die Richtung.
2.4.2 Der Ermessenspielraum
“Allen Handlungsspielräumen von Normgebern oder Behörden ist jedenfalls gemein, dass sie die gerichtliche Überprüfbarkeit staatlichen Handelns reduzieren.” *⁹⁶ [S.95]
*⁹⁶ Dementsprechend liebt die Politik den Handlungsspielraum. Sie hat ihn sich ja auch schall-, blick-, bürger- und realitätsfest eingerichtet. Klopf, klopf!
“Die Feststellung einer ‘epidemischen Lage von nationaler Tragweite’ durch den Deutschen Bundestag nach § 5 IfSG setzt eine systemische Gefahr für die ‘öffentliche Gesundheit’, d. h. für die Gesundheitsinfrastrukturen und damit für die Versorgung der Bevölkerung voraus. *⁹⁷ […] Bezugspunkt sind also nicht die Gefahren, die dem Einzelnen von einer (Infektions-)Krankheit drohen, sondern die auf den Schutz der Bevölkerung bezogene ‘öffentliche Gesundheit’.” [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.2]
*⁹⁷ Pandemie ist, wenn der Bundestag das sagt? WTF? Und sich danach aus dem Staub machen! Da kommt zum Glück noch mehr, viel mehr:
“Die Gefahr für die „öffentliche Gesundheit“ war zum Zeitpunkt des Beschlusses am 25.03.20 gegeben: Es gab realistische Befürchtungen, dass auch in Deutschland nicht genügend medizinisch geschultes Personal und medizinische Güter zur Verfügung stehen könnten, um die Epidemie zu bewältigen, ohne andere notwendige Gesundheitsleistungen zu vernachlässigen. […] Aber derzeit geht auch das RKI nicht von einer systemischen Gefahr aus, die die Infrastrukturen des Gesundheitswesens überfordern könnten. Eine ‘epidemische Notlage von nationaler Tragweite’ i.S.v. § 5 IfSG liegt daher derzeit nicht vor.” *⁹⁸ [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.3]
*⁹⁸ Punkt. — Herr Professor Kingreen, Sie sind mein Mann!
Das ist jetzt immerhin schon so konkret, daß irgendwann zwischen dem 25. März und 09. September die epidemische Notlage aufhörte eine zu sein. Ich bin für die erste Aprilhälfte. Und ich bin nicht alleine damit.
“Der Feststellungsbeschluss muss nach § 5 IfSG wieder aufgehoben werden, weil seine tatsächliche Voraussetzung, die Gefährdung der ‘öffentlichen Gesundheit’, nicht mehr vorliegt. *⁹⁹ […] Aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Implikationen besteht für den Feststellungsbeschluss nach § 5 IfSG daher nicht der politische Einschätzungsspielraum, den schlichte Bundestagsbeschlüsse üblicherweise beanspruchen können.” [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.4]
*⁹⁹ Hallo, Parlament? Jemand da? Es gibt was zu tun:
Die epidemische Notlage liegt nicht mehr vor, die Feststellung muss aufgehoben werden
2.5 Probleme der Maßnahmen zur Bekämpung der Pandemie
“Nicht die von der Infektionskrankheit ausgehenden Gesundheitsgefährdungen, sondern die auf §§28, 32 IfSG gestützten Bekämpfungsmaßnahmen lösen die besondere freiheitsgrundrechtliche Rechtfertigungsbedürftigkeit zugunsten der betroffenen Grundrechtsträger aus *¹⁰⁰, denn diese Maßnahmen stellen Grundrechtseingriffe dar.” [S.83]
*¹⁰⁰ Fürs Protokoll:
Nicht — wie die Politik sagt — der Virus ist eine Zumutung für die Gesellschaft, sondern die Maßnahmen
“[…] die Frage der Inanspruchnahme von Nichtverantwortlichen bedarf zumindest einer ausdrücklichen Regelung. Alle Eingriffsgrundlagen des IfSG sind nämlich bislang an „Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider“ (etwa § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG) adressiert, enthalten aber keine Aussagen darüber, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen auch Nichtverantwortliche in Anspruch genommen werden dürfen. *¹⁰¹ Derartige Regelungen sind vor allem deshalb dringlich, weil die auf der Grundlage von § 28 und § 32 IfSG ergriffenen Maßnahmen Grundrechtseingriffe in einer bislang einmaligen Streubreite und Eingriffstiefe erzeugt haben. [Prof. Kingreen in Quelle ², S.6]
“Im IfSG finden sich typische Seuchenbekämpfungsmaßnahmen, die besonders normiert wurden: […] Umstritten ist hier, in welchem Verhältnis die Standardmaßnahmen zur Generalklausel stehen. […] Fraglich ist deshalb, ob die in den Standardmaßnahmen fixierten Rechtsfolgen gestützt auf die Generalklausel gleichermaßen auch gegenüber Nichtstörern ergriffen werden dürfen.” *¹⁰² [S.111]
*¹⁰¹ Nochmal zurück zum Thema Rechtmäßigkeit des IfSG, gleich mit einem Kracher: Das ‘IfSG enthält keine Aussagen darüber, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen’ die Bevölkerung mit Maßnahmen belegt werden darf.
*¹⁰² Hier sogar noch etwas konkreter: wenn man im Hinterkopf behält, daß Fragen auch Aussagen sind, bedeutet: ‘fraglich ist, ob die in den Standardmaßnahmen fixierten Rechtsfolgen auch gegenüber Nichtstörern ergriffen werden dürfen’ soviel wie: die jetzigen Maßnahmen sind auf Erkrankte¹ zu begrenzen! Ganz fix würde dann auf Krankheitsverdächtige erweitert werden wollen, aber da fordert die Rechtssprechung mehr als Annahmen! Siehe *¹⁰⁹ weiter unten!
OFFENE FRAGE: ist hier wirklich ein Riesen-Hebel versteckt, den ich noch nicht richtig erkenne? Oder klingt das nur so schön, ohne wahr zu sein?
“Dass solche Regelungen [wie Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen 80 km/h, auf Landstraßen 50 km/h und im Stadtverkehr 20 km/h oder ein generelles Rauchverbot] nicht existieren, beruht nicht darauf, dass sie keinem Gesetz- oder Verordnungsgeber bisher eingefallen wären. Vielmehr wurde von solchen Regelungen aufgrund einer die grundrechtlich geschützten Freiheiten (einschließlich der von ihnen mit umfassten wirtschaftlichen Interessen) in den Blick nehmenden Abwägung abgesehen. *¹⁰³ Im Ergebnis stellt sich eine solche Entscheidung als Zuordnung bestimmter Risiken in die Privatsphäre dar. Im Rahmen der zwischen Untermaß und Übermaß liegenden Sozialgestaltung kann ein Risiko als allgemeines Lebensrisiko eingestuft werden.” [S.84–85]
*¹⁰³ Schöne, plaktive Beispiele für ‘die Gesundheit ist nicht höherrangig als andere Verfassungsgüter’.
„Das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verlangt, dass die Schwere der gesetzgeberischen Grundrechtsbeschränkung bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der sie rechtfertigenden Gründe steht. […] Eine schwere Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn der verfolgte Gemeinwohlbelang vergleichsweise schwer oder sogar noch schwerer wiegt. *¹⁰⁴
Anders als die Stufen der Geeignetheit und Erforderlichkeit kann die letzte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung in einen Konflikt zur effektiven Gefahrenabwehr treten. Die Schwere der mit einer bestimmten Gefahrenabwehrmaßnahme verbundenen Belastung bei Grundrechtsträgern kann den Staat dazu zwingen, den legitimen Zweck mit Mitteln zu verfolgen, die milder, aber nicht genauso wirksam sind wie das ursprünglich angedachte Mittel […].” *¹⁰⁵ [S.95]
*¹⁰⁴ Das Argument ist erstmal zu entkräften. Der Antragsgegner hat ja weiß Gott vorsätzlich fahrlässig alles dafür getan, den Ermessens-, Prognose-, und Handlungsspielraum einseitig so zu verbiegen, daß da gar nichts mehr abzuwägen ist, außer draufhauen und lockdownen! Wird viel Arbeit. Teile 7 & 8.
*¹⁰⁵ Das Argument ist nach Kräften zu stärken! Die Schwere der Grundrechtseingriffe! Kinder! Schulen! Alte Menschen! Bildung! Kultur! Wirtschaft! — alleine, daß man das aufzählen und begründen muss! Wie kaputt ist 2020 jetzt schon, bitte? Die Rechtfertigungslast liegt beim Staat! (s.o.,*²⁴)
“Die Umsetzung des epidemiologisch Gebotenen kann an rechtliche Grenzen stoßen.*¹⁰⁶ [Denn es müssen] die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten werden. Solche Grenzen ziehen insbes. die Freiheitsgrundrechte [und] das Verhältnismäßigkeitsgebot, […letzteres] kann den Staat dazu zwingen, einen legitimen Zweck mit Mitteln zu verfolgen, die milder, aber nicht genauso wirksam sind wie das ggf. epidemiologisch gebotene Mittel.” *¹⁰⁷ [S.109–110]
*¹⁰⁶ Das ist bislang eindeutig zu wenig passiert.
*¹⁰⁷ Und Zwang scheint nötig zu sein, denn die dickfellige Faulheit bewegt sich sonst gar nicht in Richtung rationales Abwägen und Ermessen.
“Erlaubt sind nur die jeweils zur Abwendung der Gefahr notwendigen Maßnahmen.*¹⁰⁸ Entfernt liegende Möglichkeiten oder Theorien werden damit für die Annahme einer infektionsschutzrechtlich relevanten Tatsache nicht ausreichen. Besteht jedoch die berechtigte Annahme infektionsschutzrechtlich relevanter Tatsachen, müssen die Maßnahmen der Wahrscheinlichkeit dieser Tatsachen entsprechen.” *¹⁰⁹ [S.316]
*¹⁰⁸ Das fängt ja gerade an, der Politik auf die Füße zu fallen. Die Beherbergungsverbote in M-P, die punktuelle Maskenpflicht in Hamburg von mittags bis abends, die Sperrstunden…
*¹⁰⁹ Die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung, die Infektiosität, die resultierende Gefahr oder Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung (1:12.500, 1:20.000, 1:200.000, 1:1.780.000, je nach Quelle) in Relation zur allgemeinen unterschieds- und anlasslosen Maskenpflicht gibt eine spannende Rechnung zur Verhältnismäßigkeit.
“Es ist nicht nur ein zur Abwehr der Infektionsgefahr geeignetes Mittel zu ergreifen, sondern dasjenige, […] den einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt und nicht zu einem Nachteil führt, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.” *¹¹⁰ [S.319]
*¹¹⁰ Ich werde die Einführung der Maskenpflicht in Relation zum R-Wert setzen. ‘Erkennbar außer Verhältnis’…
“Ein nicht nur tatbestandlich, sondern auch in Bezug auf die Mittelauswahl limitierendes Element einer behördlichen Entscheidung zum Infektionsschutz stellt deren zeitliche Begrenzung (Befristung) dar. *¹¹¹ […] Maßnahmen zur Gefahrenabwehr dürfen nur solange aufrechterhalten werden, wie die Gefahr andauert. In das IfSG gewendet bedeutet dies, dass sie nur gerechtfertigt sind, wenn weiterhin Tatsachen bestehen, die zum Auftreten einer übertragbaren Krankheit führen können oder zumindest anzunehmen ist, dass solche Tatsachen bestehen. Andernfalls ist die Maßnahme aufzuheben. Dies gilt für §16 und §28 gleichermaßen.
*¹¹¹ Mit der Begründung (‘befristet bis zum 19.04.’)hat das Bundesverfassungsgericht am 10.04. eine Verfassungsbeschwerde abgewiesen. Wäre interessant zu wissen, was die heute darüber denken…
Ich hab noch ein neues Wort: Staffel-Befristung! Mal sehen, wie das in ein Argument zu kleiden ist!
[…] eine Maßnahme [ist] nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht mehr erreicht werden kann. *¹¹² […] Schon vor Fristablauf ist es an der Behörde zu überprüfen, ob an bestimmten Einschränkungen festgehalten werden muss. *¹¹³ Erweisen sich einzelne Maßnahmen schon früher als nicht mehr erforderlich oder weitgehend nutzlos, müssen sie umgehend aufgehoben oder modifiziert werden. *¹¹⁴ Nur hierdurch kann der besonderen Grundrechtsrelevanz infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen Rechnung getragen werden.” [S.320–321]
*¹¹² Wieder R-Wert und Maskenpflicht. Details in Teil 7.
*¹¹³+*¹¹⁴ Die Behörde denkt ja gar nicht daran! Maßnahmen aufheben? Wo kämen wir denn da hin? Das Maskentragen ‘muss zur automatisierten Gewohnheit werden’ ¹, und auch wenn der Impfstoff da ist ‘müssen weiterhin Alltagsmasken getragen’ ² werden!
¹ Leopoldina am 23.09.20, Ad-Hoc-Stellungnahme Herbst [PDF S.7]
² RKI am 13.10., Strategiepapier für die nächsten Monate
“Die Gefahrprognose bestimmt nicht nur die Frage über das „Ob“ des behördlichen Eingreifens, sondern prägt auch die Mittelauswahl. Ohne den an sich für die Arbeit des Gesetzgebers vorbehaltenen Begriff der Einschätzungsprärogative (Gestaltungsspielraum) zu bemühen, bleibt bei naturwissenschaftlich nicht sicher zu klärenden Annahmen nur die Prüfung der Nachvollziehbarkeit der Mittelauswahl.” *¹¹⁵ [S.320]
*¹¹⁵ Wenn die Situation nicht einzuschätzen ist (Mitte März) ist es in Ordnung ‘plausibel’ zu handeln. Heute nicht mehr. Hat das RKI auch gemerkt. Es heißt nicht mehr ‘plausibel’, sondern ‘kann’.
2.6 Gesellschaftliche Folgen der Maßnahmen
“Die Beeinträchtigungen der Versammlungsfreiheit durch die Corona-Verordnungen stuft das BVerfG als schwergewichtig ein. Es betont sogar, dass nicht nur der Grundrechtsschutz des Einzelnen im Falle eines unzulässigen Eingriffs betroffen sei, sondern „angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für eine freiheitliche Staatsordnung auch im Hinblick auf das demokratische Gemeinwesen insgesamt“ die Grundrechtverletzung von enormem Gewicht wäre.” *¹¹⁶ [S.120]
*¹¹⁶ Der Blick weitet sich etwas. Das Bundesverfassungsgericht nimmt das große Ganze, ‘das demokratische Gemeinwesen insgesamt’ in den Blick. Und, — Mann! — leidet das dieses Jahr!
“Die das Alltagsleben betreffenden Einschränkungen sind so umfassend, dass alle […] Menschen in der einen oder anderen Weise betroffen waren. Sie sind so gegenwärtig, dass sich eine weitere Aufzählung erübrigt. […] Angesichts der umfassenden Verbote sozialer Kontakte, die ständigen Änderungen unterworfen sind, ist es nicht mehr ohne weiteres erkennbar, welche sozialen Verhaltensweisen überhaupt noch ‘erlaubt’ sind. Damit hat [sich] ein Prinzip [des demokratischen Rechtsstaats] in sein Gegenteil verkehrt: Der Bürger kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass alles erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten worden ist.” *¹¹⁷ [Prof. Ipsen, DVBl. 16/20 S.1040]
*¹¹⁷ Ich war bislang der Annahme, so was wäre rechtlich unrelevantes Jammern, aber da scheint ja ein rechtlicher relevanter Aspekt dahinter zu stecken. Also ein Argument für die Verfassungsbeschwerde!
“[…] und schließlich das hier besonders virulente Vorhersehbarkeitsgebot, wonach bereits aufgrund der Ermächtigung vorhersehbar sein muss, „in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die aufgrund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können, so dass sich die Normunterworfenen mit ihrem Verhalten darauf einstellen können.“ *¹¹⁸ [Prof. Kingreen in Quelle ⁴, S.5, Link von mir]
*¹¹⁸ Auch bei Prof. Kingreen? Dann sowieso! Das geht ja auch schon wieder in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Ermächtigung, und damit in Richtung IfSG.
“Der Tatbestand der Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 GG* erfüllt mit der bloßen Feststellung von Kranken, […] allerdings noch keine Begrenzungsfunktion, denn dass irgendwo in Deutschland solche Personen festgestellt wurden, kann allein nicht ausreichen, um überall in Deutschland Eingriffsbefugnisse zu reklamieren. *¹¹⁹ […] Wo eine solche Gefahr keine ausreichende Grundlage in einem erwiesenen Sachverhalt findet, sind die Voraussetzungen für Schutzmaßnahmen schon tatbestandlich nicht erfüllt. *¹²⁰ […] (Sogar) das (eindeutig) epidemiologisch Gebotene ist nämlich in das Verhältnis zum gesellschaftlich und politisch Machbaren und Verantwortbaren zu setzen […] um den inneren Frieden zu wahren. […] Erst in [der] abwägenden Gesamtschau konkretisiert sich und wird sichtbar, was eine notwendige Schutzmaßnahme [ist].” *¹²¹ [S.110] (* müsste eigentlich ‘IfSG’ heißen)
*¹¹⁹ Und nochmal einer für (d.h. gegen) die Maskenpflicht! ‘irgendwo kann nicht ausreichen, um überall’. Schön gesagt.
*¹²⁰ Man könnte meinen, noch eine Wiederholung. Aber was für eine! Das heißt nichts weniger als: wo ist denn die Gefahr, vor der wir uns schützen? Laut RKI (Stand 13.10.) ca. 40.000 ‘Infizierte’ (und was werde ich in Teil 6 auf der Zahl rumhacken! Einmal entlang dem Thesenpapier 2.0, bis kaum noch was übrig ist von der Zahl!). Egal. ‘40.000’. Alle in Quarantäne oder im Krankenhaus! Freilaufend? Keiner? 100? Oder die 1.000-2.000 als infiziert getesteten von morgen als ‘erwiesener Sachverhalt’? Verteilt auf ganz Deutschland? Wo sind da die ‘Voraussetzungen für Schutzmaßnahmen’ in gut 80 Mio. Gesichtern?
*¹²¹ Manchmal muss man einen Schritt zurück treten, um Alles zu sehen:
Sogar das epidemiologisch Gebotene ist in das Verhältnis zum gesellschaftlich Verantwortbaren zu setzen
Erst in der abwägenden Gesamtschau konkretisiert sich, was eine notwendige Schutzmaßnahme ist
Danke fürs durchhalten!
[UPDATE 04.01.21]: (Verschieben des Updates vom 11.11.20 ans Ende:)
[UPDATE 11.11.20]: Das ist ja hier ein Journal der Vorbereitung einer Verfassungsbeschwerde und keine Nachrichtenseite, aber diese Update ist unvermeidlich. Eigentlich gehört das Update in Kapitel 2.3 Das Rechtsverständnis der Regierung, vielleicht schiebe ich den Text demnächst auch dorthin:
Die mir aus der Quellenrecherche auf verfassungsblog.de gut bekannten Verfassungsrechtler Kießling, Klafki und Möllers haben schriftliche Stellungnahmen zum ‘Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite’ [PDF] eingereicht. Mit diesem dritten Gesetz soll das Infektionsschutzgesetz (IfSG) geändert werden.
Die Stellungnahmen Zerreißen den Gesetzenwurf nicht, die machen Konfetti daraus.
Was auch dringend erforderlich ist, — also das Konfetti — denn die vorgesehenen Änderungen sind eine Mischung aus lachhaft offensichtlichen Anfängerfehlern und einem Rechtsverständnis, das, …keine Ahnung — words fail me
Es fällt mir nicht ein, wie ich mich zu der Lustlosigkeit und der Schlamperei unserer Volksvertreter äußern sollte und wie ich das haarsträubende Desinteresse an dem Grundgesetz bewerten soll, ohne mich strafbar zu machen.
Ich empfehle dringend, die Quellen zu lesen! Alle drei! Drei mal 10 Seiten.
⁵ Stellungnahme [PDF] von Dr. Andrea Kießling, Ruhr Universität Bochum vom 10.11.2020 für den Gesundheits-Ausschuss des Bundestags am 12.11.2020
Dort heißt es:
“Der geplante § 28a IfSG genügt den Vorgaben von Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz nicht. Die Vorschrift lässt keinerlei Abwägung der grundrechtlich betroffenen Interessen erkennen, sondern will offenbar einseitig das bisherige Vorgehen während der Corona-Epidemie legitimieren. […]
[Die Regelungen im IfSG genügen] nicht den Vorgaben, die sich aus Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgebot ergeben. Deren Bedeutung erschöpft sich nicht darin, dass das Parlament die ihm bekannten Schutzmaßnahmen beispielhaft aufführt und dadurch deren allgemeine Zulässigkeit zur Epidemiebekämpfung ‘bescheinigt’. […]
[Die bei Maßnahmen verfassungsmäßig zwingend gebotene] Abwägung lässt § 28a nicht im Ansatz erkennen. […] Die Begründung erschöpft sich darin, die Wirksamkeit der genannten Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus darzulegen, ohne auf die Auswirkungen dieser Maßnahmen auf die Betroffenen einzugehen. […]Da der Zweck der Maßnahmen in § 28a nicht näher konkretisiert wird, wird die Prüfung durch die Verwaltungsgerichte erschwert. […]
Es wird sehr häufig der Begriff „insbesondere“ verwendet, der den Behörden maximale Flexibilität belässt, da stets auch etwas anderes in Betracht kommt. […]
Die Aufnahme des Abs. 3 [in den §28a IfSG] wirkt wie eine Legitimation langandauernder, intensiver Einschränkungen. […] Weitreichende Maßnahmen werden pauschal legitimiert, ohne dass gleichzeitig einschränkende Voraussetzungen geregelt würden.”
Auf Deutsch:
Der Gesetzgeber hat nach über einem halben Jahr bemerkt, daß er auf den Grundrechten herumtrampelt.
Abhilfe: alle bisherigen Maßnahmen aufschreiben, in §28a kopieren und behaupten: jetzt ist das gründlich und sorgsam abgewogen, auf Verhältnismäßigkeit geprüft, und damit ab sofort legal.
⁶ Stellungnahme [PDF] von Prof. Dr. Annika Klafki, Friedrich Schiller Universität Jena vom 10.11.2020 für den Gesundheits-Ausschuss des Bundestags am 12.11.2020
Prof. Klafki tut sich sehr schwer mit dem Entwurf:
“In § 28a Abs. 1 S. 1 E-IfSG werden zunächst zahlreiche […] Maßnahmen aufgelistet. [Es] wird klargestellt, dass die Auflistung nicht abschließend ist. […] Gerade bei eingriffsintensiven Maßnahmen ist eine derartige Normierungsweise schon von vornherein ungeeignet, [um den Anforderungen des Grundgesetztes zu genügen]. Die Reihenfolge der genannten Maßnahmen scheint zudem willkürlich gewählt zu sein — weder orientiert sie sich an der Eingriffsintensität der Maßnahmen noch an den betroffenen Grundrechten. Eine nähere Definition der aufgelisteten Maßnahmen fehlt. [… ] Bei unbefangener Lesart könnte man daher meinen, der Gesetzgeber wolle die zuständigen Behörden ermächtigen, den Gang in den eigenen Garten zu verbieten. [Denn] Nach derzeitigem Gesetzeswortlaut wäre auch eine absolute Ausgangssperre möglich. […] Einige Regeln sind zudem lückenhaft, missverständlich oder orthografisch fehlerhaft formuliert. […] Die Vorschrift ist letztlich eine Blankettermächtigung. Die Formulierung ‘soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 erforderlich’ ist lässt die notwendige Grundrechtsabwägung vermissen und richtet die Verhältnismäßigkeitsprüfung allein am Infektionsgeschehen aus.”
Auf Deutsch:
Der Gesetzgeber hat nach über einem halben Jahr bemerkt, daß er auf den Grundrechten herumtrampelt.
Abhilfe: alle bisherigen Maßnahmen aufschreiben, Umfang, Definition, Grammatik, Logik, Satzbau erstmal egal, geht schließlich um Grundrechte.
Vorsorglich wird auch reales Einsperren der gesamten Bevölkerung vorsehen.
⁷ Stellungnahme [PDF] von Prof. Dr. Christoph Möllers, vom 11.11.2020 für den Gesundheits-Ausschuss des Bundestags am 12.11.2020
Prof. Möllers hat noch ein paar andere Gesichtspunkte:
“Auch wenn der mit der Novellierung erreichte Rechtszustand als eine Verbesserung zu verstehen ist, bestehen damit weiterhin gravierende Zweifel, ob dieser verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass das Infektionsschutzrecht kein Sonderrecht darstellt, sondern den allgemeinen verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen muss, müssen standardisierte Maßnahmen eingehend tatbestandlich geregelt werden und dürfen nicht nur im Gesetz aufgezählt werden.
Auf Deutsch:
Der Gesetzgeber hat nach über einem halben Jahr bemerkt, daß er auf den Grundrechten herumtrampelt.
Die geplante Abhilfe ist eine Verbesserung. Nun bestehen nur noch gravierende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit.
[ENDE UPDATE]
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Wer Antworten weiß auf die OFFENEN FRAGEN, wer Fehler entdeckt oder vermutet, wer weitere Argumente weiß oder wichtige Quellen kennt, darf — nein: soll! — sich gerne bei mir melden! Auch RAe sind gern gesehen!
Telefon: 03212–4882283
Email: klage-gegen-corona[@]email.de
HINWEIS (auch an die Trolle): natürlich bin ich da nicht direkt erreichbar! Die Nummer klingelt wonirgends, sie nimmt nur Sprachnachrichten entgegen. Diese und die Mails werde ich regelmäßig (vorsichtshalber mit dem Finger auf der Löschtaste) abrufen und mich zurückmelden.
Historie der Text-Überarbeitungen
- 06.02.21 — Nummerierung der Artikelserie geändert: 8 Teile statt ‘[n]’
- 04.01.21³ — Artikelstruktur aufgrund der Aufteilung von Teil 6 in die Teile 6.1 bis 6.6 überarbeitet
- 04.01.21² — Intro überarbeitet und Ziele der Verfassungsbeschwerde erweitert
- 04.01.20¹ — Größeres Update vom 11.11.20 (Anhörung von Experten vor dem Bundestagsausschuss) an das Ende des Kapitels verschoben
- 11.11.20 — Größeres Update zu Beginn des Artikels mit drei neuen Quellen aus Stellungnahmen von Verfassungsrechtlern vor dem Gesundheitsausschuss des Bundestags
- 31.10.20 — Tausch von ‘fahrlässig’ und ‘vorsätzlich’ im Abschnitt Aufbau dieses Artikels
- 25.10.20² — Neuen Abschnitt mit neuer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes am Ende von Kapitel 1.2. Verfassungsrechtliche Bedenken der Bundestags eingefügt
- 25.10.20¹— Alle fünf OFFENE FRAGEN am Ende von Kapitel 1 Die Würde des Menschen beantwortet
- 14.10.20 — fünfte Fassung, veröffentlicht
- 12.10.20 — vierte Fassung online, zum Korrekturlesen
- 10.10.20 — dritte Fassung, nicht veröffentlicht
- 03.10.20 — zweite Fassung, nicht veröffentlicht
- 27.09.20 — erste Fassung, nicht veröffentlicht